Bibtex

@InCollection{,
  Year    = "2019", 
  Title    = "Softwarekartographie", 
  Author    = "Matthes, Prof. Dr. Florian", 
  Booktitle    = "Gronau, Norbert ; Becker, Jörg ; Kliewer, Natalia ; Leimeister, Jan Marco ; Overhage, Sven (Herausgeber): Enzyklopädie der Wirtschaftsinformatik – Online-Lexikon",
  Publisher    = "Berlin : GITO",
  Url    = "https://wi-lex.de/index.php/lexikon/entwicklung-und-management-von-informationssystemen/systementwicklung/softwarearchitektur/architekturentwicklung/softwarekartographie/", 
  Note    = "[Online; Stand 20. April 2024]",
}

Softwarekartographie

Florian Matthes


Anwendungslandschaften in Unternehmen bestehen aus vernetzten Informationssystemen, die von Personen mit sehr unterschiedlichen Interessen und Erfahrungshintergrund konzipiert, erstellt, modifiziert, betrieben, genutzt und finanziert werden. Die Softwarekartographie unterstützt die Kommunikation zwischen diesen Personen durch zielgruppenspezifische graphische Visualisierungen, die speziell für ganzheitliche und strategische Management-Betrachtungen geeignet sind.

Softwarekartographie

Analog zur Kartographie [Hake, Grünreich, Meng 2002] versteht sich die Softwarekartographie als Wissenschaft und Technik zur Visualisierung von Informationen mit einem Bezug zur Anwendungslandschaft.

Verortung auf einem Kartengrund

In der Kartographie haben alle Elemente einen natürlichen räumlichen Ortsbezug und eine räumliche Ausdehnung zusätzlich zu komplexen nicht-räumlichen Abhängigkeiten untereinander. Gerade diese Verortung und weitgehende räumliche Stabilität erlaubt es Menschen, schnell von einer Kartendarstellung zu einer anderen zu wechseln und bekannte Elemente schnell auf der Karte zu lokalisieren. Eine fundamentale Frage ist daher, was die zu verortenden Elemente von Anwendungslandschaften sind, und wie eine stabile Verortung zu erreichen ist. Es lassen sich hierbei drei Kartentypen unterscheiden:

1) Clusterkarte: Eine Clusterkarte fasst die zu verortenden Elemente (z.B. Informationssysteme, Services oder Datenbanken) in logische Domänen zusammen. Die Domänen ergeben sich aus Funktionsbereichen, Organisationseinheiten oder Standorten.  Domänen können geschachtelt werden und definieren so auch grobgranulare Distanzmaße. Die Clusterkarte in Abb. 1 definiert eine zweistufige Domänenhierarchie bestehend aus sechs Domänen auf oberster Ebene, die jeweils in bis zu vier Unterdomänen untergliedert sind, die ihrerseits Anwendungssysteme enthalten.

Eine Clusterkarte spezifiziert nicht, wie die Domänen platziert werden, und wie die verschiedenen Elemente innerhalb einer Domäne angeordnet werden. Eine platzoptimierende Positionierung auf der Karte versucht eine Karte mit minimaler Größe zu erzeugen. Bei einer konventionsbasierten Verortung werden beispielsweise Einheiten mit Kundenkontakt rechts und Einheiten mit Lieferantenkontakt links auf der Karte angeordnet. Technisch lassen sich solche Konventionen durch Layoutregeln formalisieren. Kritisch ist die Wahl von möglichst stabilen fachlichen Domänen, orientiert an Kernstrukturen des Unternehmens und nicht an gewachsenen technischen Kriterien, wie Mainframe-, PC- und Java-Anwendungen.

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Abb. 1: Clusterkarte einer Anwendungslandschaft mit logischen Domänen

2) Kartesische Karte: Eine kartesische Karte verwendet zwei Achsen (X/Y). Jede Achse ist in Intervalle aufgeteilt, für die eventuell eine Ordnungsbeziehung oder weitergehend eine metrische Abstandsfunkton existiert. Diese definiert dann die Reihenfolge und Breite der Intervalle. Ein Element wird auf einer solchen Karte platziert, indem für das Element ein oder ggf. auch mehrere (dann meist benachbarte) zugehörige X- und  Y-Intervalle bestimmt werden und das Element innerhalb der Schnittfläche(n) der Intervalle platziert wird. Auch bei diesen Karten gibt es zahlreiche Varianten des graphischen Detail-Layouts [Buckl, Ernst, Lankes, Matthes, Schweda 2007]. Nachfolgend werden die Prozessunterstützungskarte und die Zeitintervallkarte als zwei Beispiele für kartesische Karten genauer vorgestellt.

Eine Prozessunterstützungskarte wählt als X-Achse die Wertschöpfungskette des Unternehmens, die bei Konzernen häufig für die Ebene 0 bis 3 standardisiert in Prozessschritte aufgegliedert ist. Zur Verortung auf der Y-Achse können bei einer Prozessunterstützungskarte verschiedene Merkmale zum Einsatz kommen (Organisationseinheiten, Standorte, Produkte oder Kategorisierung in dispositive, operative und administrative Systeme). Verortet werden neben Anwendungssystemen (siehe Abb. 2) gelegentlich auch Datenspeicher und Organisationseinheiten (Zuständigkeiten).

Prozessunterstützungskarten sind besonders hilfreich, um Potentiale für vertikale und horizontale Integration in gewachsenen Anwendungslandschaften zu identifizieren. Bei einer horizontalen Integration werden zwei oder mehr in der Horizontalen benachbarte Systeme zu einem System zusammengefasst. Dadurch können Medienbrüche oder technische Schnittstellen im Prozessablauf vermieden werden. Ziel einer vertikalen Integration ist es, an mehreren Standorten oder für mehrere Produkte einheitliche Systeme zu etablieren, um Kostenvorteile zu erzielen. Anders als in Abb. 2 sind dann Standorte oder Produkte als Y-Achse zu wählen.

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Abb. 2: Einfache Prozessunterstützungskarte

Bei einer Zeitintervallkarte wird als X-Achse die Zeit als intervallskaliertes Merkmal gewählt. Auf der Y-Achse bieten sich bei diesem Kartentyp wiederum verschiedene Elemente an, die mit einem Zeitbezug dargestellt werden sollen. Besonders nützlich sind Zeitintervallkarten als Roadmaps zur Planung und zum Management von strategischen Architekturprogrammen, die über mehrere Jahre eine Anwendungslandschaft umgestalten.

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Abb. 3: Zeitintervallkarte mit Lebenszyklen von Anwendungssystemen und ihren Versionen

3) Graphlayout-Karte: Bei einer Graphlayout-Karte besitzt die Position eines Elements keine Bedeutung (vgl. UML-Diagramme, E/R-Diagramme, EPK-Diagramme). In der Literatur finden sich verschiedene Positionierungsregeln, die zu übersichtlichen Darstellungen führen sollen, und die auch in verschiedenen automatischen Graphlayout-Algorithmen berücksichtigt werden. Problematisch ist die Tatsache, dass viele dieser Algorithmen nach einer kleinen Modelländerung Karten erzeugen, die von Menschen als sehr verschieden von der ursprünglichen Karte wahrgenommen werden. In der Praxis findet daher häufig nach einem einmaligen automatischen Layout eine werkzeuggestützte manuelle Pflege von Graphlayout-Karten statt.

Gestaltungsregeln und das Schichtenprinzip

Die Softwarekartographie verwendet die Konzepte der Kartographie, speziell die der Thematischen Karten: Gestaltungsmittel sind die graphischen Grundelemente (Punkt, Linie und Fläche) sowie zusammengesetzte Zeichen, wie Signatur, Diagramm, Halbton oder Schrift. Gestaltungsmittelinstanzen sind Instanzen eines Gestaltungsmittels und verhalten sich analog wie Objekte zu Klassen. Gestaltungsvariablen beeinflussen die Erscheinung einer Instanz eines Gestaltungsmittels auf einer konkreten Karte, indem die Variable die Instanz hinsichtlich Größe, Form, Füllung, Tonwert, Richtung und Farbe verändert. Unterschiedliche Gestaltungsmittel besitzen unterschiedliche Gestaltungsvariablen. Nähere Erläuterungen finden sich in [Wittenburg 2007, Kapitel 3].

Darüber hinausgehend definiert die Softwarekartographie Gestaltungsregeln, dies sind Darstellungsbeschränkungen (verpflichtende Bedingungen) oder Darstellungswünsche (wünschenswerte Bedingungen). Diese werden verwendet, um deklarative Vorgaben für die Transformation von semantischen Modellen (Wissen über eine konkrete Anwendungslandschaft) in symbolische Modelle (zielgruppengerechte Karten als Instanzen von Kartentypen) zu machen.

Softwarekarten als graphische Repräsentationen von Anwendungslandschaften sollen Anwendungssysteme sowie relevante Merkmale und Beziehungen zwischen Anwendungssystemen visualisieren. Merkmale und Beziehungen können fachlich gruppiert und jeder Gruppe eine Schicht zugewiesen werden. Abb. 4 zeigt beispielhaft eine Softwarekarte, die aus einem Kartengrund und mehreren Schichten besteht.

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Abb. 4: Schichten zur Steuerung der Informationsdichte

Versionierung von Karten und Modellen

Beim Management von Anwendungslandschaften haben praktisch alle Modellinformationen (Objekte, Beziehungen, Attribute) einen Zeitbezug. Zeitintervallkarten machen diesen Lebenszyklus explizit sichtbar . Da es für Menschen kognitiv sehr schwierig ist, nebenläufige Änderungen komplexer Beziehungsgeflechte konsistenzerhaltend zu planen, hat es sich bewährt, stattdessen diskrete Planzyklen (1-2 mal pro Jahr) und entsprechende „Schnappschüsse“ der Anwendungslandschaft einzuführen. Jede Softwarekarte besitzt deshalb einen Zeitbezug: Ist, Plan und Soll. Darüber hinaus ist es notwendig, dass verschiedene Projektteams Varianten von Plan-Zuständen erstellen, die dann konsistenzerhaltend zusammengeführt werden müssen.

Die Softwarekartographie berücksichtigt diese Anforderungen, indem jede Karte neben dem eigentlichen Kartenfeld weitere Meta-Informationen als Legende besitzt: Kartentitel, Kartentyp, Autoren, Status, Erstellungsdatum, Zeitbezug (Ist, Plan, Soll) und Legende, die verwendete Gestaltungsmittel, Gestaltungsvariablen und Gestaltungsregeln erläutert.

Softwarekartographie in der Praxis

In der Praxis werden Softwarekarten von Großunternehmen eingesetzt, um das Management ihrer Anwendungslandschaft zu unterstützen (z.B. BMW Group [Fischer, Matthes, Wittenburg 2005], Deutsche Post, HVB, Krones, Münchener Rück, Volkswagen). Die Konzepte von Softwarekarten sind weiterhin in marktführende Werkzeuge zum Enterprise Architecture Management (EAM), wie planningIT der alfabet AG und ARIS IT Architect der IDS Scheer AG einge­flossen.

Eine detaillierte Analyse der Visualisierungstypen und –Funktionen von 19 EAM-Werkzeugen und der Nutzungsmuster basierend auf den Angaben von 109 Nutzern wurde 2014 von der TU München publiziert. [Roth, S., Zec, M., Utz, A., Matthes, F. 2014].

Inhalte von Softwarekarten

Abb. 5 vermittelt einen Überblick über die im Rahmen einer Unternehmensarchitektur zu modellierenden Aspekte: Im Zentrum befinden sich Anwendungen und Informationsbestände, die auf Elemente der Infrastruktur-Schicht abgebildet sind. Umgekehrt unterstützen Anwendungen Elemente der Geschäfts-Schicht. Manche EA-Modelle definieren zusätzlich Infrastruktur-Services und Geschäfts-Services als Abstraktionen, um die drei Schichten stärker voneinander zu entkoppeln. Querschnittaspekte, die sich auf Elemente mehrerer Schichten beziehen können, werden in Abb. 5 vertikal dargestellt. Neben Anforderungen und Projekten, die die Unternehmensarchitektur verändern, sind dies Kennzahlen, Richtlinien und Muster sowie Ziele und Strategien.

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Abb. 5: Ganzheitliche Sicht der Anwendungslandschaft

In absehbarer Zeit wird es keinen Konsens bezüglich eines „vollständigen“ Informationsmodells geben, das all diese Aspekte ganzheitlich und einheitlich abbildet. Im Gegenteil betonen Beratungsfirmen die Notwendigkeit, dass jedes Unternehmen ein auf seine individuellen Bedarfe zugeschnittenes Informationsmodell entwickelt, das definiert, welche Elemente, Eigenschaften und Beziehungen mit welcher Datenqualität zu modellieren sind.

Daher werden in der Praxis metamodellbasierte Ansätze zur Generierung von Softwarekarten verwendet. Ein Beispiel ist das an der TU München in Zusammenarbeit mit  Siemens entwickelte quelloffene und  frei verfügbare SoCaTool. Mit diesem Werkzeug können für „beliebige“ Modelle einer Anwendungslandschaft (semantische Modelle)  Softwarekarten (symbolische Modelle) erzeugt werden [Buckl, Ernst, Lankes, Matthes 2007].

Empirische Ergebnisse zum Einsatz von Softwarekarten

Wie bei der konventionellen Kartographie ist es auch in der Softwarekartographie wenig sinnvoll, alle nur erdenklichen und möglichen Kartentypen für ein Unternehmen oder eine Entscheidungssituation vorzuhalten. Ein auch online verfügbarer Enterprise Architecture Pattern-Katalog [Buckl, Ernst,  Lankes, Matthes 2008] hilft hier, indem er zu Entscheidungssituationen in der Praxis häufig gebräuchliche und benutzte Kartentypen und Meta-Modell-Auschnitte katalogisiert, aus denen sich Unternehmensarchitekten die für ihr Entscheidungsproblem angemessenen Arten von Karten aussuchen können. Zusätzlich zu den Kartendarstellungen sind die zur Erstellung und Pflege notwendigen Managementprozesse und ihre Konsequenzen basierend auf Informationen von mehr als dreißig Großunternehmen dokumentiert.


Literatur

Buckl, Sabine ; Ernst, Alexander ; Lankes, Josef ; Schneider, Kathrin ; Schweda, Christian: A Pattern based Approach for constructing Enterprise Architecture Management Information Models. In: Oberweis, A. et al. Hrsg.: 8. Internationale Tagung Wirtschaftsinformatik, Band 2, Karlsruhe : Universitätsverlag Karlsruhe,2007, S. 145–162.

Buckl, Sabine ; Ernst, Alexander ; Lankes, Josef ; Matthes, Florian ; Schweda, Christian ; Wittenburg, André: Generating Visualization of Enterprise Architectures using Model Transformations. In: Enterprise Modelling and Information Systems Architectures – An International Journal, Vol. 2 (2007), No. 2, Germany.

Buckl, Sabine ; Ernst, Alexander ; Lankes, Josef ; Matthes, Florian.: Enterprise Architecture Management Pattern Catalog. Version 1.0, Technical Report TB 0801, TU München, Fakultät für Informatik, Lehrstuhl für Informatik 19 (sebis), 2008. Online verfügbar unter http://wwwmatthes.in.tum.de/wikis/eam-pattern-catalog/home (letzter Aufruf 29.8.2011).

Fischer, Florian ; Matthes, Florian ; Wittenburg, André.: Improving IT Management at the BMW Group by Integrating Existing IT Management Processes. In: The Ninth IEEE International EDOC Conference (EDOC 2005),IEEE, Enschede, Niederlande, 2005, S. 219–228.

Hake, Günter ; Grünreich, Dietmar ; Meng, Liqiu.: Kartographie. 8. Auflage.Berlin, New York : Walter de Gruyter, 2002.

Lankes, Josef ; Matthes, Florian ; Wittenburg, André: Softwarekarten als Beitrag zum Architekturmanagement. In: Aier, S. ; Schönherr, M. (Hrsg.): Unternehmensarchitekturen und Systemintegration, Band 3. Berlin : Gito, 2005.

Lankes, Josef ; Matthes, Florian ; Wittenburg, André: Exkurs Softwarekartographie. In: Keller, W. (Hrsg.): IT-Unternehmensarchitektur.Heidelberg : dpunkt.verlag,2006.

Matthes, Florian: Softwarekartographie – Anwendungslandschaften verstehen und gestalten. In: Informatik-Spektrum, Band 31 (2008), Nr. 6.

Matthes, Florian ; Wittenburg, André: Softwarekartographie: Visualisierung von Anwendungslandschaftenund ihrer Schnittstellen. In: Dadam, P. ; Reichert, M. (Hrsg.): Informatik 2004 – Informatik verbindet, 34. Jahrestagung der GI. LNI P-51, Ulm : Köllen Druck+Verlag, 2004,S. 71–75.

Roth, Sascha; Zec, Marin; Matthes, Florian: Enterprise Architecture Visualization Tool Survey 2014. Technical Report. TU München, Fakultät für Informatik, Lehrstuhl für Informatik 19 (sebis), ISBN 3844289380, Online verfügbar unter https://wwwmatthes.in.tum.de/file/q4tajx4tmyzm.

Wittenburg, André.: Softwarekartographie: Modelle und Methoden zur systematischen Visualisierung von Anwendungslandschaften. Dissertation, TU München, Fakultät für Informatik, 2007.

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