Jan vom Brocke (unter Mitarbeit von Christoph J. Frick & Gregor Kipping)
Als Digitalisierungsunternehmen wird ein Unternehmen bezeichnet, dessen Geschäftszweck darin besteht, umfassende Dienstleistungen zur Digitalisierung seiner Kunden anzubieten. Hierbei existieren zwei wesentliche Merkmale: „Digitalisierung im Fokus“ und „Umfassendes Leistungsangebot zur Digitalisierung“.
Definition
Als Digitalisierungsunternehmen wird ein Unternehmen bezeichnet, dessen Geschäftszweck darin besteht, umfassende Dienstleistungen zur Digitalisierung seiner Kunden anzubieten.
Merkmale
Digitalisierungsunternehmen stellen die Digitalisierung ihrer Kunden in den Fokus. Ähnlich einem Bauunternehmen, das den Bau von Gebäuden in den Mittelpunkt rückt oder ein Maschinenbauunternehmen den Bau von Maschinen, ein Handelsunternehmen den Handel mit Waren, so rückt das Digitalisierungsunternehmen die Digitalisierung ihrer Kunden in den Mittelpunkt. Dies ist innovativ, da viele bestehende Unternehmen Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Digitalisierung aus einem anderen Kerngeschäft heraus anbieten, z.B. der Unternehmensberatung, der Rechtsberatung oder der Telekommunikation. Das Digitalisierungsunternehmen bündelt Dienstleistungen, die im Zusammenhang mit der Digitalisierung seiner Kunden erforderlich sind. Damit einher geht das zweite wesentliche Merkmal: das umfassende Leistungsangebot zur Digitalisierung.
Indem die Digitalisierung in den Mittelpunkt der Geschäftstätigkeit gesetzt wird, werden zugleich Lösungsbeiträge aus verschiedenen relevanten Disziplinen hinzugezogen. Dies umfasst insbesondere die Informatik, die Organisationslehre, die Rechtswissenschaft, das Marketing und auch Bereiche der Ethik und der gesellschaftlichen Verantwortung. Das Digitalisierungsunternehmen zeichnet sich dadurch aus, dass es die spezifische Kontextsituation des zu digitalisierenden Bereichs versteht und ein maßgeschneidertes Leistungsangebot konfiguriert, das eine ganzheitliche Planung und Umsetzung der Digitalisierung erlaubt. Hierzu wird neben der Methodenkompetenz auch Domänenkompetenz mit eingebracht.
Marktbetrachtung Digitalisierungsdienstleistungen
Digitalisierungsdienstleistungen nehmen im Kontext der digitalen Transformation einen immer grösser werdenden Raum ein. Unternehmen sehen sich verstärkt veranlasst, ihre Prozesse und auch Leistungsangebote zu digitalisieren. Die COVID-19-Pandemie hat diese Entwicklung zusätzlich beschleunigt [Hacker et al. 2020; Wang et al. 2020]. So spielen beispielsweise Online-Beratungsvideos für Unternehmensberatungen eine immer wichtiger werdende Rolle, um dem Kunden die vereinbarten Leistungen zeit- und ortsunabhängig anbieten zu können. Smarte Produkte und die darauf aufbauenden intelligenten Dienstleistungen ermöglichen eine Leistungsindividualisierung [Beverungen et al. 2019; Lehrer et al. 2018]. Dadurch entstehen neue Möglichkeiten zur Kundeninteraktion [Strobel et al. 2019].
Es existieren zahlreiche Digitalisierungsdienstleistungen, die von Unternehmen verschiedener Branchen angeboten werden. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über einige solcher Unternehmen, deren Digitalisierungsdienstleistungen und beispielhafte Anwendungskonzepte:
Digitalisierungsdienstleistungen | Anwendungskonzepte | |
Unternehmensberatungen | Einführung und Integration von Enterprise-Resource-Planning-Systemen | Fernüberwachung autonomer Prozesse, Einbindung von Sensorik als Objekt im Internet der Dinge, Data Analytics |
Infrastrukturanbieter | Cloud Computing,
Edge Computing |
Jederzeit und an jedem Ort bedarfsgerechter Zugriff über ein Rechnernetz auf eine IT-Infrastruktur und deren Ressourcen (z.B. Server, Speicher, Dienste) |
Rechtsberatung | Legal Tech,
Analysieren datenschutzrechtlicher Anforderungen |
Smart Contracts, Legal ChatBots, Rechtsberatungsplattformen, Datenschutz und -sicherheit (Authentifizierung, Integrität und Verschlüsselung) |
Softwareunternehmen | Einführung und Integration von Apps und e-Business-Software-Lösungen,
Mobile Business |
Digitale Tools (Videokonferenz-Software, Collaboration-Software), softwarebasierte Modellierung von Geschäftsprozessen |
Logistikunternehmen | Einführung autonomer Transportsysteme,
Echtzeitinventar, Smart Packaging |
Identifizierbarkeit von Assets und deren Nachverfolgbarkeit, intelligente Bestandskontrolle und -optimierung |
Marketingunternehmen | Einführung und Integration von digitalen E-Commerce-Lösungen,
Digital Content Creation, Marketing Automation |
Starke Zentrierung auf den Kunden und Usability, kontinuierliche online Schnittstelle zum Kunden via Internetplattformen, Kundenerfolgsmanagement |
Formen von Digitalisierungsunternehmen
Digitalisierungsunternehmen bündeln zwar Dienstleistungen für die Digitalisierung, können sich aber durchaus auf verschiedene Digitalisierungsvorhaben spezialisieren. Im Folgenden werden einige Dimensionen für mögliche Spezialisierungen gezeigt:
- Branche: Die Digitalisierung in Industrieunternehmen kann sich von Projekten in Finanzdienstleistungen, dem Handel, dem Bildungs- und Gesundheitswesen oder auch der Verwaltung und Regierung teils stark unterscheiden. Die Domänenkompetenz ist wichtig, um Digitalisierungsvorhaben erfolgreich zu planen und zu realisieren, sodass sich Digitalisierungsunternehmen auf spezifische Branchen spezialisieren können.
- Wertschöpfung: Digitalisierungsunternehmen können sich hinsichtlich der Wertschöpfungsebenen unterscheiden, auf denen sie Leistungen anbieten. So können prinzipiell die Strategieentwicklung, die Konzeptentwicklung und ‑umsetzung sowie -weiterentwicklung unterschieden werden. Unternehmen können sich auf einzelne Ebenen spezialisieren oder auch mehrere Ebenen zugleich anbieten, bis hin zu sog. „Full Stack“ Angeboten, die sämtliche Wertschöpfungsebenen zu übernehmen versprechen.
- Technologie: Digitalisierungsvorhaben können verschiedene Technologien nutzen, z.B. Sensor-Technologien, um Daten zu gewinnen, Distributed-Ledger-Technologien, um Daten sicher zu speichern, Data-Analytics-Technologien, um Daten auszuwerten und auch Web-Conferencing- und Social-Media-Technologien, um Menschen über digitale Medien miteinander zu verbinden. Da sowohl die technischen als auch die organisatorischen und rechtlichen Anforderungen zwischen den Technologien oft stark variieren, liegt auch die Spezialisierung von Digitalisierungsunternehmen auf ausgewählte Technologien nahe.
Die Forschung zeigt, dass Technologien erst in ihrer Anwendung in Handlungssituationen Wert stiften und dass dazu spezifische Kombinationen von Technologien zu finden sind, die neue Handlungsmöglichkeiten schaffen [vom Brocke et al. 2014]. In diesem Sinne ist auch zu erwarten, dass Digitalisierungsunternehmen bestimmte Kombinationen der oben genannten Spezialisierungsmöglichkeiten finden, wie z.B. die Strategieentwicklung für die Nutzung von Distributed-Ledger-Technologien in den Finanzdienstleistungen [vom Brocke et al. 2018].
Nutzeneffekte von Digitalisierungsunternehmen
Die Bündelung von Dienstleistungen im Hinblick auf die Unterstützung von Unternehmen bei Digitalisierungsvorhaben bringt einige Nutzeneffekte mit sich.
Ganzheitlichkeit: Digitalisierungsunternehmen bieten Dienstleistungen an, die zur umfassenden Realisierung von Digitalisierungsvorhaben erforderlich sind. Holistische Angebote über digitale Dienstleistungen können Integrations- und Transaktionskosten senken und dienen der Umsetzung einer digitalen Transformationsstrategie, die kontinuierlich verfolgt wird.
Expertise: Mit spezifischen Digitalisierungsvorhaben im Fokus stellen sich Spezialisierungs- und Lernkurveneffekte ein, die sowohl die Kosten der Vorhaben senken, als vor allem auch deren Qualität erhöhen können. Die umfassende Expertise ermöglicht es dem Digitalisierungsunternehmen auch neuartige Lösungen für komplexe Fragestellungen zu entwickeln. Dies erfolgt in engem Austausch mit Unternehmenspartnern und verbundenen Institutionen aus der Gesellschaft.
Kontextsensitivität: Leistungsangebot und Expertise ermöglichen es dem Digitalisierungsunternehmen, sich auf den jeweiligen Kundenkontext auszurichten. Ein solcher Zuschnitt eines Digitalisierungsvorhabens auf den individuellen Kontext des Unternehmens, so zeigt die Forschung [vom Brocke et al. 2021], ist entscheidend für den wertschöpfenden Technologieeinsatz.
Methodenorientierung: Ein strukturiertes Vorgehen in Digitalisierungsprojekten trägt zur Zielerreichung und Kostenkontrolle bei. Hier hat die Wirtschaftsinformatik viele Ansätze hervorgebracht, um Prozess-, Produkt- oder Geschäftsmodellinnovationen systematisch zu planen und zu realisieren. Mit Hilfe eines Methodenbaukastens können Vorgehensweisen ausgewählt und weiterentwickelt werden.
Referenzprojekte: Durch den Fokus auf spezifische Digitalisierungsvorhaben verfügt ein Digitalisierungsunternehmen über die Kenntnis möglichst vieler Vergleichsprojekte. Diese bieten einerseits Inspiration für Innovationen auf dem sich rasant entwickelnden Gebiet der Digitalisierung, andererseits enthalten sie auch Erfahrungen für die erfolgreiche Umsetzung. Digitalisierungsunternehmen können in diesem Sinne Gebrauch von Referenzmodellen machen und diese auch selbst weiterentwickeln [vom Brocke 2003].
Kontinuität: Aufgrund der Dynamik auf dem Gebiet der Digitalisierung kommt der Marktbeobachtung eine wichtige Bedeutung zu. Die Spezialisierung auf typische Digitalisierungsvorhaben begünstigt es, den State of the Art auf diesen Gebieten zu verfolgen und in die kontinuierliche Weiterentwicklung des Dienstleistungsportfolios einzubringen.
Bedeutung für Wirtschaft und Gesellschaft
Die digitale Transformation betrifft praktisch alle Bereiche des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. Digitalisierung ist zudem ein Prozess, an dem Organisationen kontinuierlich arbeiten, da sich sowohl die Technologien als auch die Anforderungen rasant verändern. Dementsprechend groß ist die Bedeutung von Digitalisierungsunternehmen.
Die Wirtschaftsinformatik als Integrationsdisziplin bildet in vielerlei Hinsicht für die Arbeit in einem Digitalisierungsunternehmen aus. Während sich die Integration früher primär auf die Informatik und Wirtschaft bezog, erfordert die Digitalisierung die Integration zahlreicher Disziplinen, wie auch der Rechtswissenschaft, den Ingenieurwissenschaften und der Psychologie. Digitalisierungsunternehmen profitieren hier insbesondere von den Methoden- und Sozialkompetenzen, die die Wirtschaftsinformatik im Hinblick auf die Entwicklung, Nutzung und Bewertung von Informationssystemen vermittelt.
Dieser Artikel wurde unter Mitwirkung von Gregor Kipping und Christoph J. Frick erstellt.
Literatur
Beverungen, D., Müller, O., Matzner, M., Mendling, J., & vom Brocke, J. (2019). Conceptualizing smart service systems. Electronic Markets, 29(1), 7-18.
Hacker, J., vom Brocke, J., Handali, J., Otto, M., & Schneider, J. (2020). Virtually in this together – how web-conferencing systems enabled a new virtual togetherness during the COVID-19 crisis. European Journal of Information Systems, 29(5), 563–584.
Lehrer, C., Wieneke, A., vom Brocke, J., Jung, R., & Seidel, S. (2018). How Big Data Analytics Enables Service Innovation: Materiality, Affordance, and the Individualization of Service. Journal of Management Information Systems, 35(2), 424-460.
Strobel, G., Paukstadt, U., Becker, J., & Eicker, S. (2019). Von smarten Produkten zu smarten Dienstleistungen und deren Auswirkung auf die Wertschöpfung. HMD, 56, 494–513.
Wang, B., Schlagwein, D., Cecez-Kecmanovic, D., & Cahalane, M. C. (2020). Editorial: Beyond the Factory Paradigm: Digital Nomadism and the Digital Future(s) of Knowledge Work Post-COVID-19. Journal of the Association for Information Systems, 21(6), Article 10.
vom Brocke, J. (2003). Referenzmodellierung. Gestaltung und Verteilung von Konstruktionsprozessen, 2. Auflage, Berlin, Logos 2003.
vom Brocke, J., Basalla, M., Kaiser, L. F., Schneider, J., Ragtschaa, S., Batliner-Staber, F., & Dzinic, E. (2018). Own – The Case of a Blockchain Business Model Disrupting the Equity Market. CONTROLLING – Zeitschrift für erfolgsorientierte Unternehmenssteuerung, 30(5), 23-29.
vom Brocke, J., Debortoli, S., Müller, O., & Reuter, N. (2014). How In-Memory Technology Can Create Business Value: Insights from the Hilti Case. Communications of the Association for Information Systems (CAIS), 34(1), 151-167.
vom Brocke, J., Mendling, J., & Rosemann, M. (2021). Planning and Scoping Business Process Management with the BPM Billboard, in: J. v. Brocke, J. Mendling, M. Rosemann (Eds.), Business Process Management. Cases, Volume 2, Berlin, Springer 2021.