Karl Kurbel (unter Mitarbeit von Rastsislau Datsenka)
Der Begriff Global Delivery Model (GDM) bezeichnet ein Organisations- und Vorgehensmodell, das die globale Erstellung von IT-Produkten und -Dienstleistungen unter Zusammenarbeit weltweit verteilter interner und externer Partner ermöglicht.
Begriff und Merkmale
Die Entstehung des Begriffs Global Delivery Model (GDM) kann auf die Zeit der raschen Expansion der indischen IT-Firmen auf dem amerikanischen Offshoring-Markt in den 90er Jahren zurückdatiert werden. Die Expansionsstrategie und konsequente Ausrichtung der indischen IT-Branche auf die Internationalisierung ihres Geschäfts lassen sich als die wichtigsten Einflussfaktoren identifizieren. Einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung von GDMs leisteten indische IT-Großunternehmen wie Tata Consultancy Services (TCS), Wipro Technologies und Infosys Technologies, die heute die wichtigsten Anwender der Modelle auf dem Weltmarkt sind.
Unter einem Global Delivery Model versteht man einen Rahmen aus standardisierten Prozeduren, Prinzipien, Richtlinien und Mechanismen für die Aufgabenverteilung, Problemlösung, Kommunikation und Kollaboration zwischen weltweit verteilten Partnern (z.B. Entwicklerteams, Projektmanager, Unterauftragsnehmer, Kunden) mit dem Ziel, IT-Produkte und -Dienstleistungen nahtlos zu erstellen und an Kunden auszuliefern.
Die wichtigsten Merkmale eines GDM sind:
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Aufteilung der Aufgaben in möglichst unabhängige Module. Das Endprodukt wird so integriert, dass der Kunde die verschiedenen Herkunftsorte der Module nicht erkennt.
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Orientierung an Standards und Referenzmodellen zur Prozessoptimierung (z.B. ITIL, CMMI).
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Starke Kundenorientierung, Präsenz am Kundenstandort (Onsite-Team), enge Zusammenarbeit zwischen Onshore- und Offshore-Teams.
GDMs werden auch als nächste Generation der Offshoring-Modelle betrachtet [vgl. Buxmann et al. 2008, S. 172]. Sie gehen über das „traditionelle“ Offshoring (Arbeitsverteilung zwischen Onsite- und Offshore-Team; vgl. Kurbel 2008, S. 224 ff.]) hinaus, indem sie beliebige weltweite Arbeitsverteilung unterstützen.
GDM aus Struktursicht
Im Vergleich zu den einfachen Onsite/Offshore-Modellen sind die Delivery-Einheiten im GDM nicht in einem Offshore-Zielland konzentriert, sondern an mehreren Standorten weltweit verteilt (Beispiel: global verteilte Software-Entwicklung). So weist etwa das GDM von Infosys die folgenden Kernelemente auf [Barnes 2008, S. 455 f.]:
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Onsite-Team – erhebt und analysiert die Anforderungen des Kunden und greift bei operativen Störungen im Projektablauf ein.
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Proximity Development Centers – koordinieren die Phasen der Projektdurchführung, sind oft in regionalen Entwicklungszentren an Nearshore-Standorten stationiert.
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Offshore Development Centers – beherbergen die Entwicklerteams, die mit den Kernaktivitäten des Projekts beschäftigt sind.
Durch die Kollaboration dieser drei Strukturelemente entsteht das globale Netzwerk des GDM. Die beispielhaft beschriebene Struktur ist nicht die einzige mögliche. Eine andere Struktur hat etwa das GDM von Wipro [vgl. Wipro 2011].
GDM als Vorgehensmodell
Ein GDM weist Merkmale des Software-Lebenszyklus auf und kann auch als ein abstraktes Vorgehensmodell interpretiert werden [Kurbel 2007, S. 11 f.]. Im Vergleich zu den üblichen Vorgehensmodellen hat ein GDM zusätzliche Merkmale, die sich aufgrund des höheren Kommunikationsaufwands beim Management der global verteilten Teams ergeben.
Abbildung 1 veranschaulicht einen typischen Prozessablauf am Beispiel des Infosys-GDM, der aus 4 Phasen besteht: Entdeckung, Design und Entwicklung, Implementierung und Postimplementierung/Unterstützung.
Abb. 1: Prozessablauf des Infosys-GDM [Srinivasan 2009, S. 217]
Vorteile und Kritik
Wesentliche Vorteile eines GDM sind Verfügbarkeit von Kompetenzen und Expertise auf globaler Ebene, Ausnutzung von Kostenvorteilen, Flexibilität des Delivery-Netzwerks und weniger Unterbrechungen im Projektablauf und bei der Auslieferung der IT-Dienstleistungen (z.B. im Falle einer Naturkatastrophe).
Die möglichen Risiken, die sich aus kulturellen Missverständnissen zwischen den Partnern (“Cultural Gap”), egozentrischem Verhalten der einzelnen Standorte, Kommunikationsproblemen, technischen Problemen (Instandhaltung der verteilten Infrastruktur) und erhöhten Management-Anforderungen ergeben können, dürfen jedoch nicht außer Acht gelassen werden.
Trotz der Risiken gilt das GDM als ein sehr erfolgreiches und verbreitetes Modell auf dem IT-Markt. Dies wird durch die schnell wachsende Anzahl von Global Delivery Centers der indischen IT-Unternehmen (um 18%) in der Zeit von 2009 und 2011 bestätigt [NASSCOM 2012, S. 4].
Literatur
Barnes, David: Operations management: an international perspective. London: Cengage Learning EMEA 2008.
Buxmann, Peter; Diefenbach, Heiner; Hess, Thomas: Die Softwareindustrie: Ökonomische Prinzipien, Strategien, Perspektiven. Berlin: Springer 2008.
Kurbel, Karl: Process Models and Distribution of Work in Offshoring Application Software Development. European University Viadrina Frankfurt (Oder), Discussion Paper No. 257; Department of Business Administration and Economics 2007 (Online-Version: http://www.wiwi.europa-uni.de/de/forschung/publikationen-projekte/dp/_dokumente/257_Kurbel.pdf, Abruf 15.09.2013).
Kurbel, Karl Eugen: The Making of Information Systems: Software Engineering and Management in a Globalized World. Berlin: Springer 2008.
NASSCOM: The IT-BPO Sector in India: Strategic Review 2012. Executive Summary.(Online-Version: http://www.nasscom.in/sites/default/files/researchreports/SR_2012_Executive_Summary.pdf, Abruf 15.09.2013).
Srinivasan, R.: Services Marketing: The Indian Context. 2nd edition. New-Delhi: PHI Learning Pvt. Ltd. 2009.
Wipro: Service Delivery Models. Wipro Technologies 2012 (Online-Version: http://www.wipro.com/india/professional-services-segments/service-delivery-models.aspx, Abruf 17.09.2013)