Der Vision des Echtzeitunternehmens – Real-Time Enterprise (RTE) –liegt die Erkenntnis zu Grunde, dass neben Qualität und Kosten zunehmend Zeit und Innovationsfähigkeit zu entscheidenden Erfolgsfaktoren im globalen Wettbewerb werden. Die schnelle und adäquate Reaktion auf Ereignisse in wertschöpfenden Unternehmensprozessen gewinnt an Bedeutung. Ansätze der vertikalen Integration betrieblicher Informationen werden bei der Umsetzung eines RTE genutzt.
Entwicklung und Begriff des Echtzeitunternehmens
Nach der ursprünglichen Definition von Gartner ist das Echtzeitunternehmen ein „Unternehmen, das zur Sicherung seiner Wettbewerbsfähigkeit aktuelle Informationen nutzt, um nach und nach Verzögerungen im Management und Ablauf seiner kritischen Geschäftsprozesse abzubauen“ (Drobik, 2002). Demnach muss ein Unternehmen zur Steuerung wertschöpfender Unternehmensprozesse – d.h. technischer und betriebswirtschaftlicher Prozesse – in (nahe) Echtzeit auf sowohl interne (z.B. aus technischen Anlagen) als auch externe Ereignisse (z.B. Nachfrageverhalten) reagieren. Im Kontext produzierender Unternehmen geht es dabei um die Steigerung der Effizienz durch Verbesserung von Durchlaufzeiten, Qualität und Auslastung.
Unter der horizontalen Integration wird die inner- und zwischenbetriebliche Integration von Enterprise Resource Planning (ERP)-Systemen mit betrieblichen Anwendungssystemen wie Customer Relationship Management (CRM)-, Supply Chain Management (SCM)– und Product Lifecycle Management (PLM)-Systemen verstanden. Bestehende Enterprise Application Integration (EAI)-Lösungen, z.B. auf der Basis Service-orientierter Technologien, können für die horizontale Integration von betrieblichen Anwendungssystemen verwendet werden und bilden somit die Grundlage zur Etablierung eines Real-Time Business (RTB) (Alt, 2004).
Ziel der vertikalen Integration eines Unternehmens ist es, unterschiedliche Unternehmensebenen nahtlos miteinander zu verbinden. In Abbildung 1 werden die technische und betriebswirtschaftliche Sicht eines Unternehmens und die Verteilung von Unternehmensprozessen auf verschiedene Ebenen dargestellt. Dabei kann konstatiert werden, dass sich die auf verschiedenen Unternehmensebenen ausgeführten Prozesse sowohl bezüglich der Zeithorizonte mit ihren unterschiedlichen Zeitgranularitäten als auch inhaltlich stark unterscheiden. Geschäftsprozesse auf der Unternehmensleitebene, die häufig durch ERP-Systeme unterstützt werden und u.a. der Festlegung der Unternehmensstrategie dienen, werden offline mit einem Zeithorizont einiger Wochen und Monate ausgeführt (s. Scheer, 2003). Betrachtet man dagegen die Prozesse auf der Fertigungsebene, verkürzen sich die zugrundeliegenden Zeithorizonte auf Bereiche von wenigen Sekunden oder sogar Millisekunden. Die auf der Unternehmensleitebene ausgeführten betriebswirtschaftlichen Planungssysteme (z.B. ERP-Systeme) arbeiten transaktionsorientiert und berechnen Planungsgrößen, die im Rahmen eines RTE mit den von Automatisierungssystemen in der Produktion generierten, produktionsbegleitenden Daten abgeglichen werden sollten. Dieser Abgleich hat unter Berücksichtigung ihrer Semantik – z.B. durch Aggregation zu Kennzahlen – zu erfolgen. Die Herausforderung produzierender Unternehmen bei der Etablierung eines RTE besteht demnach im Wesentlichen in der Schließung der (1) temporalen als auch der (2) semantischen Integrationslücke.
Die (gegenwärtig) inadäquate Integration der Unternehmensebenen verhindert die durchgängige Realisierung der Vision des RTE. Verschiedene wissenschaftliche Disziplinen – Betriebswirtschaftslehre, Ingenieurwissenschaft und (Wirtschafts-)Informatik – können Beiträge zum Verständnis und zur Überwindung der vertikalen Integrationslücke und damit auch zur Verwirklichung eines RTE liefern.
Abbildung 1: Verteilung von Unternehmensprozessen auf verschiedene Unternehmensebenen und deren dazu korrespondierende Zeithorizonte mit ihrer Zeitgranularität
Ingenieurwissenschaftliche Perspektive – Die Rolle von Rückkopplungen
Das Grundprinzip der Regelungstechnik hat schon seit langem zur Beschreibung betrieblicher Informationssysteme Eingang in die Wirtschaftsinformatik gefunden. Es kann daher auch auf die Interaktion der verschiedenen, oben skizzierten Unternehmensebenen übertragen werden. Demnach wird ein (IT-) System benötigt, dass die tatsächlichen Prozesswerte der wertschöpfenden Prozesse misst, mit den übergeordneten Zielvorgaben auf der Leitebene abgleicht und steuernd in die Unternehmensprozesse eingreifen kann.
Dieser Idee folgend versucht man mit Manufacturing Execution Systems (MES) (Kletti, 2007), die vertikale Integrationslücke zu schließen und Rückkopplungen zwischen Unternehmensleitebene und Fertigungsebene zu etablieren. Organisationen wie der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) und der US-amerikanische Industrieverband Manufacturing Enterprise Solutions Association (MESA) beschäftigen sich intensiv mit MES und haben diesbezüglich eine Reihe von Richtlinien und Normen veröffentlicht (z.B. Richtlinie VDI 5600 – Manufacturing Execution Systems). Die Datenerfassung auf der Fertigungsebene beschränkt sich oftmals mit der Betriebsdatenerfassung (BDE) und Maschinendatenerfassung (MDE) durch einen Maschinenbediener, vernachlässigt jedoch die Einbeziehung echter Prozessdaten aus den Automatisierungssystemen.
Informationstechnische Perspektive – IT- Konzepte, Methoden und Systeme
Betriebliche Anwendungssysteme auf der Unternehmensleitebene können mit bestehenden EAI-Lösungen horizontal integriert werden. Service-orientierte Architekturen (SOA) haben sich dabei zu einem de facto Standard für EAI entwickelt. In einer SOA werden Funktionen betrieblicher Anwendungssysteme in Form von Services (z.B. Web-Services) bereitgestellt. Diese Services können von anderen Anwendungssystemen genutzt werden. Ein Enterprise Service Bus (ESB) wird als Backbone einer SOA eingesetzt, da er dazu verwendet werden kann, Services verschiedener Herkunft (d.h., verschiedener Anwendungssysteme, die auf verschiedenen Plattformen ausgeführt werden) zu integrieren. Daneben können Services mit Workflow-Management-Systemen (WfMS) zu komplexen Prozessabläufen orchestriert werden.
Der offene Schnittstellen-Standard OLE for Process Control (OPC) kann dazu verwendet werden, Prozessdaten zwischen Systemen der Fertigungs- und der Leitebene auszutauschen.
In einer ereignisgetriebenen Architektur – Event-Driven Architecture (EDA) – interagieren Komponenten durch den Austausch von Ereignissen miteinander. Unter einem Ereignis wird in diesem Kontext ein Datenobjekt als softwaretechnischer Repräsentant dieses Ereignisses verstanden. Im Kontext wertschöpfender Unternehmensprozesse treten dabei Ereignisse auf, die in kausaler, logischer und temporaler Abhängigkeit zueinander stehen können. Ereignisse, die sich auf diese Weise aus einfachen Ereignissen zusammensetzen, werden als komplexe Ereignisse bezeichnet (Luckham, 2012). Die Verarbeitung komplexer Ereignisse wird unter dem Begriff Complex Event Processing (CEP) derzeit diskutiert. Ein CEP-System bietet eine standardisierte Softwareinfrastruktur zur kontinuierlichen Kontrolle und Steuerung von Unternehmensprozessen in Echtzeit.
Betriebswirtschaftliche Perspektive – Prozesse im Vordergrund
Mit den diskutierten informationstechnischen Konzepten, Methoden und Technologien ist es möglich, geschlossene Regelkreise zwischen der Unternehmensleitebene und der Fertigungsebene aufzubauen. Grundgedanke des RTE ist es, Verzögerungen im Management und Ablauf kritischer Geschäftsprozesse durch Nutzung aktueller Informationen abzubauen. Dieser Herausforderung wird nicht alleine mit dem Einsatz potenter IT-Technologien begegnet. So können die Methoden des Business Process Management (BPM) und des Business Process Reengineering (BPR) durchaus auch auf wertschöpfende Unternehmensprozesse auf Fertigungsebene angewandt werden. Ein solcher Gedanke wird mit der Arbeit (Schmalzried, 2013) für die Beschaffungsseite von Fertigungsunternehmen (Real-Time Supply Chain Planning) vorgestellt.
Ausblick
Die Vision eines RTE für produzierende Unternehmen rückt mit der Verfügbarkeit innovativer IT-Technologien in greifbare Nähe (Grauer, 2010). Die vertikale Integration verschiedener Unternehmensebenen ist eine der zentralen Herausforderungen bei der Entwicklung und Etablierung konkreter RTE-Lösungen. Ein ganzheitlicher Ansatz sollte dabei nicht alleine informationstechnische Konzepte, Methoden und Systeme beinhalten, sondern auch ingenieurwissenschaftliche und betriebswirtschaftliche Perspektiven umfassen. So kann es gelingen, echtzeitnahe Eingriffe sowohl reaktiv als auch proaktiv zu realisieren.
Literatur
Alt, R.; Österle, H.: Real-time Business – Lösungen, Bausteine und Potenziale des Business Networking, Springer, Berlin, 2004.
Drobik, A.; Raskino, M.; Flint, D.; Austin, T.; MacDonald, N.; McGee, K.: The Gartner definition of real-time enterprise, Tech. Report, Gartner Inc., 2002
Grauer, M.; Karadgi, S.; Metz, D.; Schäfer, W.: Real-Time Enterprise – Schnelles Handeln für produzierende Unternehmen. Wirtschaftsinformatik & Management (5), 2010, 13-15
Kletti, J. (Hrsg.): Manufacturing Execution Systems – MES, Springer, Berlin, 2007
Luckham, D.: Event Processing for Business – Organizing the Real-Time Enterprise, John Wiley & Sons, Hoboken, 2012.
Scheer, A.-W.; Abolhassan, F.; Bosch, W. (Hrsg.): Real-Time Enterprise – Mit beschleunigten Managementprozessen Zeit und Kosten sparen, Springer, Berlin, 2003.
Schmalzried; D.: In-Memory-basierte Real-Time Supply Chain Planung, GITO, Berlin, 2013