Bibtex

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  Year    = "2019", 
  Title    = "Wissenschaftstheorie", 
  Author    = "", 
  Booktitle    = "Gronau, Norbert ; Becker, Jörg ; Kliewer, Natalia ; Leimeister, Jan Marco ; Overhage, Sven (Herausgeber): Enzyklopädie der Wirtschaftsinformatik – Online-Lexikon",
  Publisher    = "Berlin : GITO",
  Url    = "https://wi-lex.de/index.php/lexikon/uebergreifender-teil/forschung-in-wi/wissenschaftstheorie/", 
  Note    = "[Online; Stand 21. November 2024]",
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Wissenschaftstheorie

Stephan Zelewski


Die Wissenschaftstheorie als “Theorie” wissenschaftlichen Wissens setzt sich mit den Grundlagen auseinander, die in einer jeden Objektwissenschaft – wie der Wirtschaftsinformatik – vorausgesetzt werden, um wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse zu erlangen.

Ein- und Abgrenzung von Wissenschaftstheorie

Die Wissenschaftstheorie stellt eine Metawissenschaft dar. Sie befasst sich mit den Grundlagen, die in einer Objektwissenschaft als “Bedingungen der Möglichkeit” wissenschaftlich fundierter Erkenntnis vorausgesetzt werden. Diese Grundlagen erstrecken sich auf die Gewinnung, die Überprüfung und die Anwendung von Erkenntnissen im wissenschaftlichen Kontext. Da die Wissenschaftstheorie als eine Spezialisierung der Erkenntnistheorie aufgefasst werden kann, bietet es sich an, zunächst den Gegenstandsbereich der Erkenntnistheorie einzugrenzen.

Die Erkenntnistheorie befasst sich sowohl mit den Prozessen des Gewinnens von Erkenntnissen über “die” Wirklichkeit als auch mit den Ergebnissen dieser Prozesse. Die Prozessergebnisse, d. h. die gewonnenen Erkenntnisse, werden in synonymer Weise als Wissen bezeichnet. Wissen über “die” Wirklichkeit stellt daher das zentrale Objekt der Erkenntnistheorie dar. Folglich lässt sich die Erkenntnistheorie auch als eine allgemeine Theorie des Wissens charakterisieren. Sie erstreckt sich sowohl auf vor- oder außerwissenschaftliches Wissen (Alltagswissen) als auch auf wissenschaftliches Wissen.

Die typischen philosophischen oder “grundlegenden” Fragen, mit denen sich die Erkenntnistheorie ausein­andersetzt, erstrecken sich z. B. auf die Bedeutung des Wissensbegriffs, die Bedingungen der Möglichkeit des Gewinnens von Wissen über “die” Wirklichkeit (Realität), die Anforderungen an Begründungen, mit denen realitätsbezogene Geltungsansprüche (Wahrheit) von Wissen gerechtfertigt werden können, die Bedeutung des Wahrheitsbegriffs sowie die Bewertung von Wissen, z. B. im Hinblick auf seine Exaktheit, Glaubwürdigkeit, Zuverlässigkeit oder “pragmatische” Verwertbarkeit.

Die Wissenschaftstheorie lässt sich von der Erkenntnistheorie dadurch abgrenzen, dass sich die Wissenschaftstheorie ausschließlich mit wissenschaftlichem Wissen auseinandersetzt. Daher kann die Wissenschaftstheorie als eine spezielle Erkenntnistheorie für wissenschaftliches Wissen charakterisiert werden.

Grundlegende Fragen aus der Erkenntnistheorie werden übernommen, aber an das Bezugsobjekt “wissenschaftliches Wissen” angepasst. Hinzu kommen mindestens zwei grundlegende Fragen, die erst im Kontext von wissenschaftlichem Wissen “sinnvoll” gestellt und beantwortet werden können. Erstens handelt es sich um die Frage, welche besonderen Merkmale Wissen als wissenschaftliches Wissen qualifizieren. Zweitens ist die Frage betroffen, in welcher Form wissenschaftliches Wissen als Ergebnis wissenschaftlichen Arbeitens darzustellen ist.

Die Abgrenzung wissenschaftlichen Wissens gegenüber Alltagswissen wird durch wissenschaftstheoretische Auswahl- oder Identitätsprinzipien geleistet. Es handelt sich um regulative Ideen, die den Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung und die Beurteilung der Ergebnisse wissenschaftlichen Arbeitens im Sinne von Idealvorstellungen leiten sollen, aber in der Praxis des real existierenden Wissenschaftsbetriebs in der Regel nicht streng umgesetzt werden.

Zu diesen Auswahl- oder Identitätsprinzipien gehören insbesondere das Streben nach Wahrheit, Allgemeingültigkeit und Widerlegbarkeit wissenschaftlich gehaltvoller Erkenntnisse, der Anspruch, Phänomene der Realität zu erklären oder zu verstehen, die Forderung nach Intersubjektivität sowie das Streben nach Abstraktheit, indem von kontingenten Aspekten realer Phänomene abgesehen wird und stattdessen als wesentlich erachtete Aspekte hervorgehoben werden.

Ein wissenschaftstheoretischer Orientierungsrahmen

Mithilfe eines wissenschaftstheoretischen Orientierungsrahmens lassen sich Basisentscheidungen identifizieren, die in einer Objektwissenschaft hinsichtlich der Grundlagen wissenschaftlich fundierter Erkenntnis thematisiert werden sollten. Je nachdem, wie diese Basisentscheidungen ausfallen, kann von unterschiedlichen “Paradigmen” wissenschaftlichen Arbeitens gesprochen werden.

Die ontologischen Basisentscheidungen betreffen Grundüberzeugungen darüber, wie “die” Realität beschaffen ist. Dazu gehört vor allem die Antwort auf die allgemeine ontologische Frage, ob es eine Realität “an sich” gibt, in der die Gegenstände der Erfahrung unabhängig von erkennenden Subjekten existieren (ontologischer Realismus), oder ob die Realität und die darin wahrgenommenen Gegenstände der Erfahrung erst in Erkenntnisprozessen von Subjekten erschaffen werden (ontologischer Idealismus und radikaler Konstruktivismus).

Große Relevanz für jede Objektwissenschaft besitzen die ontologischen Basisentscheidungen darüber, welcher Art diejenigen realen Sachverhalte sind, die es als Objekte wissenschaftlichen Arbeitens zu untersuchen gilt und somit den relevanten Realitätsausschnitt oder Gegen­standsbereich einer Objektwissenschaft konstituieren. Einerseits werden mit der Hilfe von inhaltli­chen Kriterien jene realen Sachverhalte als Erkenntnisobjekte ausgewählt, für die sich eine Objektwissenschaft interessiert. Andererseits die­nen die Er­fahrungsobjekte dazu, diejenigen Gegenstände der Erfahrung in der sinnlich wahrnehmbaren Realität zu kennzeichnen, in­ oder an denen sich die inhaltlich fixierten Erkenntnisobjekte einer Objektwissenschaft manife­stie­ren.

Die epistemologischen Basisentscheidungen erstrecken sich zunächst auf Grundüberzeugungen darüber, in welchem Verhältnis einerseits “die” Realität und andererseits die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die sich über Gegenstände der Erfahrung in dieser Realität gewinnen lassen, zueinander stehen.

Wenn beispielsweise die ontologische Grundüberzeugung geteilt wird, dass eine Realität “an sich” existiert (ontologischer Realismus), dann können aus epistemologischer Perspektive verschiedenartige Positionen hinsichtlich der Möglichkeit vertreten werden, wissenschaftliche Erkenntnisse über diese Realität zu gewinnen. Sie reichen von der Grundüberzeugung, die Realität lasse sich “im Prinzip” unverfälscht erkennen (naiver epistemologischer Realismus), über die Grundüberzeugung, dass zwar Erkenntnisse über die Realität gewonnen werden können, aber stets von aktiven Erkenntnisleistungen des erkennenden Subjekts gegenüber “der” Realität verzerrt werden (aufgeklärter epistemologischer Realismus), bis hin zu der Grundüberzeugung, die Realität “an sich” lasse sich nicht erkennen, sondern nur so, wie sie für ein erkennendes Subjekt in Erscheinung tritt (transzendentaler Idealismus). Es wird deutlich, dass es oberflächlich wäre, von “dem” Realismus als einer wissenschaftlichen Grundüberzeugung zu sprechen. Vielmehr lässt sich der ontologische Realismus sowohl mit unterschiedlichen Varianten des epistemologischen Realismus vereinbaren als auch mit einer – in epistemologischer Hinsicht – idealistischen Position.

Mithilfe der methodologischen Basisentscheidungen werden diejenigen Instrumente (“Methoden”) der Erkennt­nisgewinnung ausgewählt, die von den Vertretern einer Objektwissenschaft als wissen­schaft­lich “angemessene” Erkenntnisinstrumente anerkannt werden. Der Instrumentbegriff umfasst nicht nur Methoden im engeren Sinn von systematischen Verfahren zur Erfüllung von gleichartigen Aufgaben, sondern auch Modelle als Artefakte zur Repräsentation von Wissen, Techniken als aufgaben- oder problembezogene Kombinationen von Methoden und Modellen sowie Werkzeuge als computergestützte Implementierungen von Techniken.

Wirtschaftsinformatik im wissenschaftstheoretischen Spannungsfeld

In Beiträgen, die sich in der Wirtschaftsinformatik mit wissenschaftstheoretischen Grundlagen auseinandersetzen, findet oftmals eine Perspektivenverengung auf methodologische Basisentscheidungen statt. Dies erweckt den Eindruck, als ob nur Basisentscheidungen über Methoden, die als “Standards” wissenschaftlichen Arbeitens akzeptiert werden, aus wissenschaftstheoretischer Perspektive relevant seien. Es ist schwer nachzuvollziehen, warum die o. a. ontologischen und epistemologischen Basisentscheidungen in der Wirtschaftsinformatik weniger relevant sein sollten.

Zurzeit lässt sich in der Wirtschaftsinformatik ein “Kulturkampf” mit erheblicher wissenschaftstheoretischer Relevanz beobachten. Auf der einen Seite stehen die Anhänger des angelsächsisch geprägten “Information Systems (Research)” mit einer eindeutigen methodologischen Präferenz zugunsten empirisch-quantitativer Methoden. Sie lassen sich in der Mehrzahl einem ontologischen Realismus sowie einem naiven epistemologischen Realismus zuordnen. Auf der anderen Seite lassen sich Anhänger von “Design Science” identifizieren, die im angelsächsischen Sprachraum nur eine Minderheitsposition einnehmen, aber in der deutschsprachigen Wirtschaftsinformatik überwiegen. Sie verwehren sich gegen die Dominanz empirisch-quantitativer Methoden und betonen, dass sich wissenschaftlich gehaltvolle Erkenntnisse auch mit anderen Methoden gewinnen lassen. Dazu gehören beispielsweise die Konstruktion von softwaretechnischen Artefakten (“Prototypen”) und “kleinzahlige” qualitative Fallstudien zur Analyse der Auswirkungen des Einsatzes solcher Artefakte im betrieblichen Alltag.

In jüngster Zeit ist eine bemerkenswerte Diskussion darüber entfacht worden, ob das Konzept stilisierter Fakten dazu beitragen könnte, zwischen “Information Systems (Research)” und “Design Science” zu vermitteln. Stilisierte Fakten stellen generalisierte und somit “konstruierte” Sachverhaltsbeschreibungen dar, die von empirischen Einzelfallbeschreibungen so weit abstrahieren, dass sie in zahlreichen situativen Kontexten beobachtet werden können und daher als empirisch breit gestützt gelten. Es handelt sich um Artefakte, die empirisch fundierte Regularitäten oder Musteraussagen ausdrücken. Sie reduzieren das Beobachtungsmaterial unter Vernachlässigung “unwesentlicher” Details auf jene Aspekte, die aus “allgemeiner” wissenschaftlicher Perspektive als hinreichend interessant empfunden werden und daher einer überzeugenden Erklärung bedürfen. Der aktuelle Disput über das Konzept stilisierter Fakten zeigt, dass wissenschaftstheoretische Grundsatzfragen auch im Rahmen der Wirtschaftsinformatik erneut auf fruchtbaren Boden fallen.


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