Ein großer Teil der Forschung in der Wirtschaftsinformatik ist darauf gerichtet, innovative Artefakte und korrespondierende Handlungssysteme zu entwerfen und zu erproben. Ein solcher konstruktionsorientierter Forschungsansatz bietet spezifische Chancen, die allerdings nur dann sinnvoll genutzt werden können, wenn er methodisch überzeugend fundiert wird.
Gegenstand und Ziel
Die Wirtschaftsinformatik zielt auf Theorien und Methoden, die die Entwicklung, organisatorische Implementierung und das Management betrieblicher Informationssysteme fördern. Dabei werden Informationssysteme nicht als Selbstzweck betrachtet, sondern dezidiert als Mittel zur Festigung oder Förderung der Wettbewerbsfähigkeit von Organisationen. Während über diese Ausrichtung international weitgehend Einigkeit herrscht, gehen die Vorstellungen darüber, welche wissenschaftliche Vorgehensweise dazu angemessen ist, deutlich auseinander.
Entwurf von Artefakten und korrespondierenden Handlungssystemen als Forschungsziel
Die Wirtschaftsinformatik ist von Beginn an durch eine ausgeprägte Praxisorientierung gekennzeichnet. Diese drückt sich darin aus, dass die Forschung auf die Entwicklung innovativer Systeme sowie die Gestaltung korrespondierender organisatorischer Kontexte gerichtet ist. Beispiele für entsprechende Forschungsresultate sind Software-Prototypen, konzeptuelle (Referenz-) Modelle, Modellierungssprachen, Methoden oder konzeptuelle Bezugsrahmen. Ergänzend dazu werden korrespondierende Entwürfe des jeweils relevanten Handlungskontextes erstellt – z. B. neue Formen interorganisationaler Kooperation, neue Geschäftsmodelle oder innovative Formen der Gestaltung von Geschäftsprozessen.
Mit der zunehmenden Internationalisierung des Fachs ist dieser traditionelle Forschungsansatz der Wirtschaftsinformatik in die Diskussion geraten, was dazu geführt hat, dass nunmehr – mit einem zunehmend forschungsmethodischen Anspruch [Becker, Niehaves et al. 2008] – von einem konstruktionsorientierten bzw gestaltungsorientierten [Österle, Becker, Frank et al. 2010] Forschungsansatz gesprochen wird. Ein ähnlich ausgerichteter Ansatz wird von Vertretern der Information Systems-Disziplin unter dem Etikett „Design Science“ propagiert [Hevner, March et al. 2004]. Er hat in den letzten Jahren eine gewisse Resonanz erfahren. Dies äußert sich einerseits in einer beachtlichen Zahl von Publikationen, die sich auf “Design Science” als methodische Fundierung berufen, andererseits gibt es eine Reihe von Ansätzen, die auf eine Weiterentwicklung von “Design Science” gerichtet sind (z.B. [Gregor, Jones 2007; Peffers et al. 2008]. Eine ausführliche Darstellung und Kritik des “Design Science”-Ansatzes findet sich in [Zelewski 2007].
Chancen und Herausforderungen
Konstruktionsorientierte Forschung bietet der Wirtschaftsinformatik die Chance zu einer überzeugenden Profilierung. Gleichzeitig sieht sie sich erheblichen Herausforderungen gegenüber. Dabei geht es nicht zuletzt darum, eine eher ingenieurwissenschaftlichen Entwurfslehre durch Ansätze zu erweitern, die den Besonderheiten sozialer Systeme, etwa der zentralen Bedeutung der Sinnstiftung [Weick 1995], zu verbinden.
Grenzen empirischer Forschung
Im internationalen Wettbewerb sieht sich die Wirtschaftsinformatik der Information Systems
–Disziplin gegenüber, deren Forschungsprogramm weitgehend empirisch, also an der behavioristischen Sozialforschung ausgerichtet ist. Während ein solcher Ansatz auf den ersten Blick dadurch überzeugt, dass er einem gängigen Muster wissenschaftlicher Forschung entspricht, stellt sich bei näherer Hinsicht heraus, dass er an einer Reihe von Problemen leidet. So bietet Forschung, die sich auf die Analyse bestehender Formen der Entwicklung und Nutzung von Informationssystemen beschränkt, nur ein begrenztes Potential, innovatives Handeln in der Praxis anzuregen [Frank 2009]. Vor diesem Hintergrund stellt eine Anpassung an das Paradigma empirischer Sozialforschung eine fragwürdige Option dar.
Methodische Fundierung
Konstruktionsorientierte Forschung sollte eine überzeugende wissenschaftstheoretische Fundierung vorweisen. Das impliziert zum einen die Betonung der zentralen Merkmale wissenschaftlicher Forschung – Abstraktion, Originalität und Begründung. Zum anderen ist dazu ein Theoriebegriff erforderlich, der den Besonderheiten von des Entwurfs möglicher zukünftiger Welten Rechnung trägt (ein Vorschlag dazu findet sich in [Frank 2017]) und Alternativen zum Primat der Wahrheit als zentralem Begründungskriterium der Wissenschaften aufzeigt [Rorty 1999]. Die Begründung von Forschungsergebnissen stellt dabei eine besondere Herausforderung dar. Eine umfassende Begründung etwa durch einen formalen Beweis oder durch eine empirisch bestätigte gehaltvolle Theorie wird i.d.R. keine Option sein. Deshalb bleibt nur die Möglichkeit, alle Annahmen, die dem Entwurf einer Konstruktion zugrunde liegen, explizit zu machen. Dazu gehören Annahmen, die Anforderungen, Entwurfsentscheidungen wie auch die Evaluation betreffen. Für jede Annahme ist dann die bestmögliche nachvollziehbare Evidenz anzustreben – sei es durch die widerspruchsfreie Einbettung in anerkanntes Wissen (Kohärenztheorie der Wahrheit), durch empirische Bestätigung (Korrespondenztheorie) oder durch einen Konsens im Kreise anerkannter Experten (Konsenstheorie, [Lorenz 1996]). Dazu ist jeweils eine spezifisch konfigurierte Forschungsmethode zu erstellen. Ein entsprechender Vorschlag findet sich in [Frank 2006].
Literatur
Becker, J.; Niehaves, B.; Olbrich, S.; Pfeiffer, D.: Forschungsmethodik einer Integrationsdisziplin – Eine Fortführung und Ergänzung zu Lutz Heinrichs ‚Beitrag zur Geschichte der Wirtschaftsinformatik‘ aus gestaltungsorientierter Perspektive. In: Proceedings der Multikonferenz Wirtschaftsinformatik, Track Wissenschaftstheorie. München 2008.
Frank, U.: Towards a Pluralistic Conception of Research Methods in Information Systems Research. ICB Research Report, No. 7, Universität Duisburg-Essen 2006.
Frank, U.: Die Konstruktion möglicher Welten als Chance und Herausforderung der Wirtschaftsinformatik. In: Becker, J.; Krcmar, H.; Niehaves, B. (Hrsg.) Wissenschaftstheorie und gestaltungsorientierte Wirtschaftsinformatik. Physica-Verlag: Heidelberg 2009, S. 167-180.
Frank, U.: Theories in the Light of Contingency and Change: Possible Future Worlds and Well-Grounded Hope as a Supplement to Truth, IEEE (Ed.), 2017 50th Hawaii International Conference on System Sciences, Hawaii 2017
Gregor, S.; Jones, D.: The Anatomy of a Design Theory. In: Journal of the Association
for Information Systems. Vol. 8, No. 5, S. 312-335
Hevner, A. R.; March, S. T.; Park, J.; Ram, S.: Design Science in Information Systems Research. In: MIS Quarterly 28 (2004), Nr. 1, S. 75-105.
Lorenz, K.: Wahrheitstheorien. In: Mittelstraß, J. (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. 4. Bd.. Weimar : Metzler 1996, S. 595-600.
Österle, H.; Becker, J.; Frank, U. et al.: Memorandum zur gestaltungsorientierten Wirtschaftsinformatik. In: Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung. Heft 11, 2010, S. 664-669.
Peffers, K.; Tuunanen, T.; Rothenberger, M.A.; Chatterjee, S.: A Design Science Research Methodology
for Information Systems Research. In: Journal of Management Information Systems, Volume 24 Issue 3, Winter 2007-8, pp. 45-78.
Rorty, R.: Philosophy and social hope. Penguin Books: New York, 1999
Weick, K.E.: Sensemaking in organizations, 2nd ed., Sage: Thousand Oaks 1995.
Zelewski, S.: Kann Wissenschaftstheorie behilflich für die Publikationspraxis sein? Eine kritische Auseinandersetzung mit den “Guidelines” von Hevner et al. In: Lehner, F., Zelewski, S. (Eds.): Wissenschaftstheoretische Fundierung und wissenschaftliche Orientierung der Wirtschaftsinformatik. GITO: Berlin 2007, S. 74-123.