Dr. Hannes Schlieter, Prof. Dr. Ali Sunyaev, Prof. Dr. Rüdiger Breitschwerdt, Prof. Dr. Martin Sedlmayr (Fachgruppe “Digital Health” der Gesellschaft für Informatik, GI e.V.), vgl. dazu auch Editorial. it – Information Technology 61(5-6): 209-210. https://doi.org/10.1515/itit-2019-0045
Definition
Seit Jahrzehnten ist der Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) im Gesundheitswesen eine Selbstverständlichkeit [Haas, 2005]. Trotz vieler großartiger Fortschritte –z. B. im Bereich der Dokumentations- und Managementsysteme –gibt es nach wie vor berechtige Erwartungen und Hoffnungen bzgl. des IKT-Einsatzes im Gesundheitswesen [Agarwal et al., 2010; Haried et al., 2019]. Bisherige IKT-Anwendungen befassten sich hauptsächlich mit der Digitalisierung von vorherrschenden Prozessen durch Workflow-Management-Systeme und Dokumente, um die Konsistenz, Rückverfolgbarkeit sowie die Austauschbarkeit medizinischer Daten innerhalb einer (oder mehreren) Gesundheitseinrichtung(en) zu verbessern, etwa durch elektronische Arztbriefe und elektronische Patientenakten. Die anspruchsvolle demographische Situation, die technologischen Möglichkeiten sowie die Digitale Transformation in Wirtschaft, Verwaltung, und privaten Lebensumfeld [Hess et al., 2014] führen auch zu einer begrifflichen Umorientierung. Dies erfolgt unter dem Begriff “Digital Health” (vgl. [Rivas & Wac, 2018]), der den bisherigen Begriff “eHealth” [Sood et al., 2007] allmählich ablöst und erweitert, jedoch nicht tilgt.
Das Verständnis des Begriffes „Digital Health“(wie vereinzelt auch bereits „eHealth“) geht weit über die Bereitstellung von elektronischen Werkzeugen und Diensten für das Gesundheitswesen bzw. Medizin hinaus. Der Begriff betont die tiefe transformatorische Dynamik, die sich aus der ubiquitären Verfügbarkeit von Informationen und Analysekapazitäten ergibt, mit denen bspw. Vital- bzw. biometrischen Werte kontinuierlich erhoben, verarbeitet sowie Trends und Risiken analysiert werden. Eng verbunden mit der allgemeinen Bewegung der digitalen Transformation [Hess et al., 2014], bricht das Konzept der digitalen Gesundheit radikal das Stereotyp von getrennten Gesundheitsorganisationen, die unabhängig voneinander medizinische Versorgung für Patienten anbieten. Es lenkt die inzwischen überholte institutionszentrierte auf eine bürgernahe Sichtweise (der sich auch in neuen Begriffen wie “Consumer Health” [Sunyaev, 2013] wiederspiegelt), erleichtert Präventiv- und Nachbehandlungsansätze, die den früheren starken Fokus auf kurative Ansätze ergänzen, und etabliert die häusliche Umgebung als einen wichtigen Ort der Versorgung.
Diese tiefgreifende und ständig zunehmende Integration digitaler Technologien in den Alltag der Menschen, z. B. durch mobile Lösungen vom Smartphone bis hin zu Wearables [Gerhardt et al., 2018], wälzt die Sichtweise auf die Gesundheitsversorgung um: Die Quantifizierung des individuellen Gesundheitszustands etwa wird zunehmend nicht mehr nur in Gesundheitseinrichtungen vollzogen, sondern auch von anderen, verbraucherorientierten Organisationen, wie z. B. Anbietern von Gentests [Thiebes et al., 2020]. Dies wird zu einer ständigen Aufgabe werden, die dazu beiträgt, die Lebensqualität sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft vorherzusagen, zu erhalten oder zu verbessern. Digital Health zugeschriebene Anwendungen waren beispielsweise bereits aktiver Teil der Strategien für bessere Versorgung in den nationalen Gesundheitssystemen Singapurs oder Australiens [Bain & Alvandi 2020]. In Deutschland ebnet eine aktuell (Stand Anfang 2020) entstehende Verordnung über die Erstattungsfähigkeit digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGAV) durch die gesetzliche Krankenversicherung voraussichtlich den Weg für ähnliche Entwicklungen.
Da wir am Ausgangspunkt dieses Wandels stehen, lassen sich die kommenden Entwicklungen für Digital Health und entsprechende Anwendungen nicht vollends abschätzen, sind aber zu erwarten in Bereichen wie Künstliche Intelligenz und darin insb. Maschinellem Lernen, freiwilliger Datenabgabe der Bürger*innen und Patient*innensouveränität oder einem zunehmenden Verschmelzen von entsprechender Soft- und Hardware zu komplexen Systemen. Digital Health berührt somit nicht nur Fragen der Interoperabilität und die Aus- oder Überarbeitung passender technischer, syntaktischer oder semantischer Standards, sondern auch Medizinprodukterecht und -ethik. Bemerkenswert ist die Feststellung, dass durch die pandemische Situation z. B. rund um die Corona-Krise eine Vielzahl von Implementierungshürden (https://www.kbv.de/html/1150_44943.php) rapide beseitigt wurden und Digital Health Lösungen als Baustein in der Krisenbewältigung per se akzeptiert zu sein scheinen (https://www.n-tv.de/panorama/Drosten-sieht-grosse-Chance-in-Virus-App-article21682999.html).
Digital Health in der Informationssystemforschung
Bei einem Blick auf die gesundheitsbezogene Forschung im Information Systems Research Scholarly Basket (insb. Journale ISR, MISQ, JMIS, JIT, ISJ, JSIS, EJIS, JAIS) lässt sich Stand Ende 2019 feststellen, dass von 800 relevanten Artikeln nur 50 explizit den Begriff “Digital Health” verwenden. Dies verdeutlichet, dass dieser Terminus in der Wissenschaft noch selten verwendet wird. Häufiger wurden Gesundheitsinformationstechnologie (Health Informations Technology), Gesundheitsinformationssysteme (Health Information System – HIS) als verwandte Begriffe verwendet. Zudem erfolgt ein breites Spektrum an Untersuchungen in spezifischen technologischen Themen wie Health Information Exchange (HIE), Clinical Decision Support Systems (CDSS) oder eben Electronic Health Records (EHR). Einige Meta-Studien führen diese Untersuchungen zusammen und geben einen Ausblick auf die zukünftige Forschungsagenda [Davidson et al., 2018; Haried et al., 2019; Ho et al., 2019].
Literatur
Agarwal, R.; Gao, G.; DesRoches, C.; Jha, A. (2010) Research Commentary –The Digital Transformation of Healthcare: Current Status and the Road Ahead. Information Systems Research 21(4):796-809. https://dl.acm.org/doi/abs/10.1287/isre.1100.0327
Bain, C.; Alvandi, A. (2020) Digital Healthcare Across Oceania. Communications of the ACM 63(4):64-67. https://doi.org/10.1145/3378420
Davidson, E.; Baird, A.; Prince, K. (2018) Opening the envelope of health care information systems research. Information and Organization 28(3):140-151. https://doi.org/10.1016/j.infoandorg.2018.07.001
Gerhardt, U.; Breitschwerdt, R.; Thomas, O. (2018) mHealth Engineering: A Technology Review. Journal of Information Technology Theory and Application 19(3):82. https://aisel.aisnet.org/jitta/vol19/iss3/5/
Haas, P. (2005) Medizinische Informationssysteme und elektronische Krankenakten. Springer, Berlin.
Haried, P.; Claybaugh, C.; Dai, H. (2019) Evaluation of health information systems research in information systems research: A meta-analysis. Health Informatics Journal 25(1):186. https://doi.org/10.1177/1460458217704259
Hess, T.; Legner, C.; Esswein, W.; Maaß, W.; Matt, C.; Österle, H.; Schlieter, H.; Richter, P.; Zarnekow, R. (2014) Digital Life as a Topic of Business and Information Systems Engineering? Business & Information Systems Engineering 6(4):247-253. https://doi.org/10.1007/s12599-014-0332-6
Ho, S.Y.; Guo, X.; Vogel, D. (2019) Opportunities and Challenges in Healthcare Information Systems Research: Caring for Patients with Chronic Conditions. Communications of the AIS 44:852. https://doi.org/10.17705/1CAIS.04439
Rivas, H.; Wac, K. (2018) Digital Health. Springer, Cham. https://doi.org/10.1007/978-3-319-61446-5
Sood, S.; Mbarika, V.; Jugoo, S.; Dookhy, R.; Doarn, C.; Prakash, N.; Merrell, R. (2007) What is telemedicine? A collection of 104 peer-reviewed perspectives and theoretical underpinnings. Telemedicine and e-Health 13(5):573-590.https://doi.org/10.1089/tmj.2006.0073
Sunyaev, A. (2013) Consumer Healthcare Information Technology. Gesundheitswesen 75(6):400-2. https://doi.org/10.1055/s-0033-1343445
Thiebes, S.; Toussaint, P.; Ju, J.; Ahn, J.; Lyytinen, K.; Sunyaev, A. (2020) Valuable Genomes: Taxonomy and Archetypes of Business Models in Direct-to-Consumer Genetic Testing. Journal of medical Internet research 22(1):e14890. https://doi.org/10.2196/14890