Jan vom Brocke, Thomas Grisold (unter Mitarbeit von Gregor Kipping)
Process Science ist ein interdisziplinäres Wissenschaftsgebiet, das sich konstituiert hat, um die vielfältigen Veränderungen unserer Welt besser zu verstehen und daraus Gestaltungsempfehlungen für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik abzuleiten. Process Science rückt Prozesse in den Mittelpunkt, mit denen Veränderungen in verschiedenen Bereichen und auf verschiedenen Ebenen konzeptualisiert werden. Dabei folgt Process Science einem holistischen Verständnis von Prozessen, das nicht auf bereits vorhandene Disziplinen limitiert ist. Es vereint Beiträge aus verschiedenen Disziplinen wie der Informatik, der Organisations- und Managementlehre, den Ingenieurwissenschaften und der Wirtschaftsinformatik, um Prozesse besser verstehen und gestalten zu können.
Definition
Process Science ist ein interdisziplinäres Forschungsgebiet, das auf das Verständnis und die Gestaltung von Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft zielt. Unter dem Begriff «Process» verstehen wir eine Folge von Veränderungen, die sich über Zeit entfalten und auf mehreren Bezugsebenen stattfinden können. Gemessen werden Veränderungen zumeist anhand von Ereignissen, die in gewissen Kontexten und zu spezifischen Zeiten erfasst werden und so in ihrer zeitlichen und logischen Beziehung zueinander analysiert werden können. Digital Trace Data ist hier ein aktuell viel beachtetes Beispiel, das eine faszinierende Datengrundlage für Process Science bietet – und das aus verschiedenen Datenquellen, wie Sensordaten, Enterprise Software, Social Media und Body Data, um nur einige Beispiele zu nennen [Pentland et al. 2021].
Einordnung
Bislang hat sich die Forschung der Wirtschaftsinformatik überwiegend auf die Untersuchung von Systemen konzentriert, wobei der Wandel als Übergang von einem zu einem anderen Zustand solcher Systeme verstanden wurde. Heute sehen wir jedoch, dass der Wandel derart stark wird, dass zukünftige Zustände immer weniger vorhersehbar sind [vom Brocke 2022]. Process Science rückt daher Prozesse – nicht Systeme – in den Mittelpunkt und zieht Beiträge verschiedener Disziplinen heran, um die vielfältigen Veränderungen unserer Welt zu verstehen und daraus Gestaltungsempfehlungen für die Wirtschaft, Gesellschaft und Politik abzuleiten.
Prozess Science hat sich konstituiert, um sich explizit mit dem komplexen Phänomen der Veränderungen ganzheitlich zu beschäftigen. Wo beginnen und wo enden Veränderungen, die sich dynamisch im Laufe der Zeit entfalten und denen eine moderne Gesellschaft kontinuierlich ausgesetzt ist? Der durch kontextuelle Faktoren beeinflusste Wandel kann absichtlich durch menschlichen Einfluss herbeigeführt werden – beispielsweise, wenn Organisationen im Rahmen des Change Managements Veränderungsinitiativen ergreifen. Er kann sich aber im Laufe der Zeit auch ohne absichtliche Handlungen von Akteuren oder Organisationsstrukturen entwickeln. Process Science nähert sich der Frage, wie und warum sich Wandel manifestiert. Wie können Veränderungen erkannt und erklärt werden und wie können Entscheidungen unter kontinuierlichen Veränderungen unterstützt werden? Was sind Muster («Patterns»), die Veränderungsprozessen zugrunde liegen?
Grundprinzipien
Process Science verfolgt das Ziel, Methoden, Theorien und Ansätze aus verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen miteinander zu verknüpfen, um ein umfassendes Verständnis von Prozessen und deren Management sowie Möglichkeiten zur Prozessgestaltung zu entwickeln. Ziel ist es, wirtschaftliches und gesellschaftliches Handeln im Kontext von Wandel zu unterstützten. Hierzu basiert Process Science auf drei Grundprinzipien (Abbildung 1): Process Science rückt Prozesse aller Art in den Mittelpunkt der Betrachtung (Focus) und zieht Beiträge verschiedener Disziplinen heran (Perspectives), mit dem Ziel, Prozesse zu erkennen, zu erklären und zu beeinflussen (Objectives).
Abbildung 1: Process Science Research Framework [vom Brocke et al. 2021]
Prozesse im Fokus
Prozesse sind bisher meist als Teil anderer Disziplinen betrachtet worden: Prozesse finden in Organisationen statt und so hat bereits die frühe Organisationslehre Prozesse betrachtet [Nordsieck 1934; Kosiol 1962]. Prozesse laufen auch in Softwaresystemen, insbesondere in Unternehmenssoftware. Daher hat die Informatik schon früh Prozesse, auch Workflows, gestaltet [Ouyang et al. 2015]. Die Wirtschaftsinformatik hat auf den sozio-technischen Aspekt von Prozessen abgestellt und wesentlich zur Disziplin des Business Process Managements (BPM) beigetragen, die Mensch/Aufgabe/Technik-Systeme innerhalb und zwischen Organisationen betrachtet [vom Brocke et al. 2011]. Heute, so argumentieren die Begründer von Process Science, sind Prozesse aus bestehenden Strukturen in einer Art und Weise herausgewachsen, dass wir Prozesse in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken und Beiträge verschiedenster Disziplinen heranziehen sollten, um Prozesse zu erklären und zu gestalten [vom Brocke et al. 2021; Mendling et al. 2021].
Prozesse werden agnostisch zu einzelnen Disziplinen beschrieben (siehe Definition oben) und bewusst weit gefasst, um möglichst viele verschiedene prozessuale Phänomene erfassen zu können. Tabelle 1 gibt einen Überblick über verschiedene Merkmale und Merkmalsausprägungen von Prozessen.
Criterion | Distinction of process | |
Types of Process | Example | |
Structure of process | Causal processes | Seed germination |
Thought-sequencing process (do this, then that) | Solving an equation
|
|
Ceremonial process | Baptism | |
Performatory process | Playing poker | |
Form of process | Biological processes | Mitosis |
Mental processes | Perceiving | |
Political processes | Voting | |
Mathematical processes | Differential equation | |
Outcome of process | Productive process | Manufacturing process |
Problem-solving process | Solving a criminal case | |
Social-stylization processes | Performing a wedding | |
Origin of process | Owned process (follows from thing or subject, intentional) | Performs a piece of music |
Unowned process (non-intentional, do not come from subject or thing) | Thunderstorm |
Tabelle 1: Merkmale und Merkmalsausprägungen von Prozessen [vom Brocke et al. 2021; Rescher 2000]
Sehen, Verstehen und Gestalten
Process Science verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz bei der Forschung zu Prozessen, der auf drei Stufen systematisiert wird:
- Process Discovery: Erfassen und Beschreiben von Prozessen, insbesondere auch mit Methoden der Computational Science [Lazer et al. 2020; Chia 1999].
- Process Explanation: Verstehen, warum, wie und wann ein Prozess sich entwickelt, auch mit Methoden der qualitativen empirischen Forschung [Poll et al. 2018].
- Process Intervention: In den Prozess eingreifen und ihn in die gewünschte Richtung lenken, insbesondere mit Methoden der gestaltungsorientierten Forschung [Gaieck et al. 2020; Hevner et al. 2004].
Die stetig wachsende Digitalisierung, die inzwischen fast alle Bereiche unseres privaten und beruflichen Lebens betrifft, generiert umfassende Datenquellen – digitale Spuren – zur innovativen Untersuchung von Prozessen und liefert vielfältige Informationen zur Prozessdynamik. Computergestützte Techniken aus zahlreichen Disziplinen ermöglichen dabei die Analyse von Prozessdynamiken auf unterschiedlichen Ebenen [Simsek et al. 2019]. Process Science nutzt, integriert und analysiert diese Daten mit modernen Verfahren der Datenanalyse und gewährt so eine neue Sichtweise auf die Untersuchung und Gestaltung von Prozessen.
Interdisziplinäre Wissenschaft
Process Science ist offen für sämtliche Disziplinen, die Beiträge zur Beschreibung, zum Verständnis und zur Veränderung von Prozessen leisten können. Ziel ist es, Beiträge, Methoden und Theorien zur Untersuchung von Prozessen zu integrieren und auf diese Weise Zusammenhänge zu sehen, die aus der Perspektive einzelner Disziplinen nicht zu sehen wären.
Wenn wir beispielsweise die Umweltbelastung durch unser wirtschaftliches und soziales Verhalten verringern möchten, ist es sinnvoll, den Blick nicht auf Organisationen oder die Umwelt zu beschränken, sondern Prozesse innerhalb der Wirtschaft und Gesellschaft zu untersuchen, um alle relevanten Auswirkungen zu erfassen, beispielsweise durch die Synthese von Perspektiven aus der Ökonomie und den Umweltwissenschaften [Hertz et al. 2020].
Nur durch den Blick über die Grenzen einzelner Disziplinen hinweg und die Integration von übergreifenden Perspektiven und Erkenntnissen können Prozessdynamiken umfassender verstanden werden. Process Science fungiert als Schnittstelle zwischen den Disziplinen und integriert Annahmen und Methoden, um eine ganzheitliche Untersuchung von Prozessen zu fördern.
Nutzeneffekte von Process Science
Process Science hat das Potenzial eine unserer Grundannahmen zu hinterfragen: Besteht die Welt aus Objekten? In den meisten Disziplinen sind wir darauf fokussiert zuerst an Objekte zu denken. In der Informatik und Wirtschaftsinformatik wird beispielsweise davon ausgegangen, dass Prozesse die Eigenschaften von Objekten verändern, die a priori existieren. Einflussreiche Prozessmodellierungssprachen wie UML und BPMN sehen es vor, Objekte darzustellen und sie dann miteinander zu verbinden [Fowler 2004; Chinosi und Trombetta 2012]. Andere Disziplinen, wie beispielsweise die Biologie, beginnen, die objektorientierte Perspektive in Frage zu stellen und eine primär prozessorientierte Perspektive zu entwickeln [Nicholson und Dupré 2018]. Ein Perspektivwechsel von der Objekt- zur Prozessperspektive bietet eine neue Möglichkeit über vertraute Probleme nachzudenken.
Zwei Gründe sprechen dafür, dass wir uns gerade heute mit Process Science befassen: Zum einen die dramatisch gestiegene Bedeutung von Veränderungen – und zum anderen die neuen technischen Möglichkeiten diese Veränderungen zu untersuchen. Was passiert, wenn wir aufhören in Zuständen von Systemen zu denken? Was, wenn wir zuerst in Prozessen denken und diese ganzheitlich verstehen? Was sind wir dann im Stande zu sehen? Innovative Technologie macht es heute möglich Veränderungen in Echtzeit sichtbar zu machen – und Process Science nutzt diese Daten, um wichtige Beiträge zur besseren Bewältigung es Wandels in Wirtschaft und Gesellschaft zu leisten.
Quellen:
Chia, R. (1999). A ‘rhizomic’ model of organizational change and transformation: Perspective from a metaphysics of change. British journal of management, 10(3), 209-227.
Chinosi, M., & Trombetta, A. (2012). BPMN: An introduction to the standard. Computer Standards & Interfaces, 34(1), 124-134.
Fowler, M. (2004). UML distilled: a brief guide to the standard object modeling language: Addison-Wesley Professional.
Gaieck, W., Lawrence, J., Montchal, M., Pandori, W., & Valdez-Ward, E. (2020). Opinion: Science policy for scientists: A simple task for great effect. Proceedings of the National Academy of Sciences, 117(35), 20977-20981.
Hertz, T., Garcia, M. M., & Schlüter, M. (2020). From nouns to verbs: How process ontologies enhance our understanding of social-ecological systems understood as complex adaptive systems. People and Nature, 2(2), 328-338.
Hevner, A. R., March, S. T., Park, J., & Ram, S. (2004). Design science in information systems research. MIS Quarterly, 75-105.
Kosiol, E. (1962). Organisation der Unternehmung. Wiesbaden: Gabler Verlag.
Lazer, D., Pentland, A., Watts, D. J., Aral, S., Athey, S., Contractor, N., . . . Margetts, H. (2020). Computational social science: Obstacles and opportunities. Science, 369(6507), 1060-1062.
Mendling, J., Berente, N., Seidel, S., & Grisold, T. (2021). Pluralism and Pragmatism in the Information Systems Field: The Case of Research on Business Processes and Organizational Routines. The Data Base for Advances in Information Systems, 52(2), 127–140.
Nicholson, D. J., & Dupré, J. (2018). Everything flows: towards a processual philosophy of biology: Oxford University Press.
Nordsieck, F. (1934). Grundlagen der Organisationslehre. Stuttgart: Poeschel.
Ouyang, C., Adams, M., Wynn, M.T., ter Hofstede, A.H.M. (2015). Workflow Management. In: vom Brocke, J., Rosemann, M. (eds) Handbook on Business Process Management 1. International Handbooks on Information Systems. Berlin, Heidelberg: Springer.
Pentland, B., Vaast, E., Ryan Wolf, J. (2021). Theorizing process dynamics with directed graphs: A diachronic analysis of digital trace data. MIS Quarterly, 45(2), 967-984.
Poll, R., Polyvyanyy, A., Rosemann, M., Röglinger, M., & Rupprecht, L. (2018). Process forecasting: Towards proactive business process management. Paper presented at the International Conference on Business Process Management.
Simsek, Z., Vaara, E., Paruchuri, S., Nadkarni, S., & Shaw, J. D. (2019). New ways of seeing big data. Academy of Management Journal, 62(4), 971-978.
vom Brocke, J. (2022). Process Science: Gemeinsam Wandel verstehen und gestalten, in: 100 Schlaglichter der BWL, Verband der Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer für Betriebswirtschaft: https://vhbonline.org/ueber-uns/100-jahre-vhb/100-schlaglichter-der-bwl/process-science (13.03.2022).
vom Brocke, J., Becker, J., Braccini, A. M., Butleris, R., Hofreiter, B., Kapocius, K., De Marco, M., Schmidt, G., Seidel, S., Simons, A., Skopal, T., Stein, A., Stieglitz, S., Suomi, R., Vossen, G., Winter, R., & Wrycza, S. (2011). Current and future issues in BPM research: a European perspective from the ERCIS meeting 2010. Communications of the AIS (CAIS), 28(1), Article 25, 393-414.
vom Brocke, J., van der Aalst, W.M.P, Grisold, T., Kremser, W., Mendling, J., Pentland, B., Recker, J., Roeglinger, M., Rosemann, M., Weber, B. (2021). Process Science: The Interdisciplinary Study of Continuous Change. Working Paper, available at SSRN Electronic Library.