Bibtex

@InCollection{,
  Year    = "2019", 
  Title    = "Systemanalyse", 
  Author    = "Krallmann, Prof. em. Dr. HermannTrier, Dr.-Ing. Matthias", 
  Booktitle    = "Gronau, Norbert ; Becker, Jörg ; Kliewer, Natalia ; Leimeister, Jan Marco ; Overhage, Sven (Herausgeber): Enzyklopädie der Wirtschaftsinformatik – Online-Lexikon",
  Publisher    = "Berlin : GITO",
  Url    = "https://wi-lex.de/index.php/lexikon/informations-daten-und-wissensmanagement/informationsmanagement/information/system/systemanalyse/", 
  Note    = "[Online; Stand 23. April 2024]",
}

Systemanalyse

Hermann KrallmannMatthias Trier


Die Systemanalyse ist ein systematischer und systemischer Ansatz zur modellbasierten Analyse eines Unternehmensbereichs. Dabei werden für eine definierte Problemstellung im Kontext der Wirtschaftsinformatik, wie z.B. Anforderungsanalyse, Softwarekonzeption, Prozessverbesserung, Umstrukturierungen, Anforderungen an eine Lösungsgestaltung definiert oder eine Lösung im Sinne einer Intervention gestaltet.

Systemanalyse und Systemtheorie

Bei der Systemanalyse handelt es sich um einen praxiserprobten, systematischen und systemischen Ansatz zur modellbasierten Analyse des komplexen Untersuchungsgegenstands Unternehmen zum Zwecke der anschließenden Ableitung zielgerichteter Interventionen.

Dabei werden in der Regel der Aufbau sowie die äußeren und inneren Funktionalitäten einer Organisation untersucht und bewertet, um für eine definierte Problemstellung innerhalb des betrachteten Bereichs Anforderungen an eine Lösungsgestaltung zu definieren oder aber eine Lösung im Sinne einer Intervention zu gestalten (Krallmann et al. 2013, S.41).

Diese Lösung ist auf eine zielgerichtete Veränderung im betrachteten Unternehmen gerichtet. Ziele der Systemanalyse im Kontext der Wirtschaftsinformatik sind beispielsweise die prozessorientierte Reorganisation von Unternehmensstrukturen, die Veränderung oder Automatisierung von Unternehmensprozessen, die Anforderungsanalyse bzw. bedarfsgerechte Konzeption von Softwareunterstützung für bestimmte Unternehmensaufgaben, die Integration von Datenstrukturen oder IT-gestützten Unternehmensprozessen oder die Analyse des Wissenstransfers im Unternehmen.

Entsprechende Interventionsvorschläge sind nicht ausschließlich auf IT-Systeme beschränkt. Vielmehr berücksichtigen sie vorrangig die Bedürfnisse und Anforderungen der unmittelbaren Benutzer und schließen ebenso organisatorische Aspekte mit ein. Somit können im Rahmen der Systemanalyse ganzheitlich die Gestaltungsdimensionen Organisation, Technik und Mensch einbezogen werden.

Die Systemanalyse baut auf der Systemtheorie auf und betrachtet Unternehmen als ein komplexes, offenes, dynamisches, sozio-technisches System aus Elementen, die in komplexen Wirkungsbeziehungen zueinander stehen (z.B. im Sinne einer Vielzahl interagierender Menschen und Technologien). Anstelle einer Analyse weniger unabhängiger Größen und ihrem Einfluss auf abhängige Größen nach dem Ursache-Wirkungsprinzip berücksichtigt die Systemanalyse für ein ausgewähltes Umfelds eine Vielzahl von wechselwirkenden Elementen in einem engen Zusammenhang mit zahlreichen Rückbezügen. Dieser systemische Fokus auf das Zusammenspiel von Strukturelementen bzw. Abläufen eines Unternehmens trägt dem Umstand Rechnung, dass ein Unternehmen als System oft komplex ist, emergente Eigenschaften entwickelt und zum Aufbau einer Ordnung über dezentrale Strukturbildung tendiert.

Als Beispiel ergeben sich erst nach einer Analyse der Wechselbeziehungen zwischen einzelnen Aktivitäten im Kontoeröffnungsprozess einer Bank Erkenntnisse über Engpässe oder Unterauslastungen bei einzelnen Aktivitäten. Bei den Wechselwirkungen kann es sich hierbei um Antragsdaten handeln, die von einer Aktivität bearbeitet und dann zur nachfolgenden Aktivität gesendet werden.

Systemanalyse und Modelle

Von einem untersuchten Unternehmen werden im Rahmen der Systemanalyse über definierte Modellierungsvorgehensweisen zielgerichtete und vereinfachte Unternehmensmodelle erstellt. Das erstellte Modell ist in der Regel ein Informationssystemmodell (auch verkürzt als Informationsmodell bezeichnet), in welchem alle relevanten Informationen zum Zwecke der Organisations- und Anwendungssystemgestaltung abgebildet werden. Entsprechend werden (Informations-) Objekte (aus Daten und Funktionen), Organisationsstrukturen und Prozesse modelliert.

Für diesen Vorgang steht im Kontext der Wirtschaftsinformatik eine große Vielzahl an verbreiteten Modellarten zur Verfügung. Modellarten legen konkrete Konventionen bezüglich modellierbarer spezieller Elemente und ihrer Zusammenhänge zur Modellierung bestimmter Sachverhalte fest. So können über einzelne Modellarten z. B. Ereignisse und deren Auswirkungen, Kontrollflüsse, Datenflüsse oder die Zusammenhänge zwischen Daten bzw. Aktivitäten dokumentiert werden. Da mit einer einzigen Modellart viele Zusammenhänge im Unternehmen oft nicht sinnvoll bzw. nachvollziehbar abgebildet werden können, ist für den Systemanalytiker in der Praxis der sinnvolle Umgang mit einer Vielzahl von Modellarten erforderlich. Besonders verbreitet ist in diesem Zusammenhang die grafische Modellierung des Unternehmens mit Hilfe bestimmter semi-formaler Diagrammsprachen. Diese werden in objektorientierte, datenflussorientierte und kontrollflussorientierte Modellierungssprachen eingeteilt. Beispiele für im Rahmen einer Systemanalyse eingesetzte Modellarten sind Ereignisgesteuerte Prozessketten, Entity Relationship Diagramme, Diagramme der Unified Modeling Language, Datenflussdiagramme, System Dynamics Diagramme oder Soziogramme der Netzwerkanalyse.

Bei der Modellierung werden zunächst semi-formale Beschreibungsmethoden mit einem geringen bis mittleren Detailliertheitsgrad eingesetzt. Diese werden anschließend in formalisierte Modelle überführt, welche dann den Ausgangspunkt für das technische und das Implementierungskonzept bilden. Im technischen Konzept werden die Fachbeschreibungen an die generellen Schnittstellen der Informationstechnik angepasst, die dann im Implementierungskonzept in Hardware- und Softwarekomponenten übertragen werden (vgl. Scheer 1994, S. 14).

Vorgehensmodell der Systemanalyse

Beim Vorgang einer Systemanalyse wird ausgehend von einer betriebswirtschaftlichen Problemstellung auf Basis der erstellten (Ist-) Modelle und weiterer Informationen über das betrachtete Unternehmen der Istzustand des Unternehmens erfasst und analysiert und daraus ein Fachkonzept im Sinne eines Interventionsvorschlags erstellt und gegebenenfalls über (Soll‑) Modelle spezifiziert.

Für einen solchen Ablauf einer Systemanalyse wird das Vorgehensmodell der Systemanalyse herangezogen. In diesem wird die zeitliche und logische Reihenfolge der Aufgaben beschrieben. Es enthält Angaben zu den Zielen einzelner Aktivitäten und den dabei anzuwendenden Methoden. Die Systemanalyse im Unternehmen wird dabei als ein Projekt organisiert und durchgeführt.

Das Vorgehensmodell der Systemanalyse nach Krallmann et al. (2013) besteht aus den fünf Phasen Projektbegründung, Istanalyse, Sollkonzept, Realisierung und Implementierung. Diese Phasen werden nicht starr durchlaufen, sondern als ein iterativer (wiederholtes Ausführen einzelner Phasen), rückgekoppelter (Überprüfung von Wirkzusammenhängen), heuristischer Prozess verstanden. Unter heuristischem Vorgehen wird im Gegensatz zu analytischen Lösungsverfahren ein planvolles Experimentieren mit dem Ziel, eine möglichst günstige Lösung für das betrachtete Problem zu finden, verstanden. Die fünf Phasen werden von zwei unterstützenden Flanken kontinuierlich begleitet (vgl. Abbildung 1), dem Projektmanagement und der Partizipation. Letzteres bedeutet die permanente Einbeziehung der von der Analyse betroffenen Mitarbeiter durch Information und Mitbestimmungsmöglichkeiten (vgl. Krallmann et al. 2013, S.122).

 Systemanalyse Vorgehensmodell

Abb. 1: Vorgehensmodell der Systemanalyse im Unternehmen

In der Systemanalyse werden in den Phasen der Istanalyse und des Sollkonzepts Ist- bzw. Sollmodelle benötigt, um den gegenwärtigen Zustand und die möglichen Änderungen zu dokumentieren.

Die erste Phase des Vorgehensmodells, die Projektbegründung, umfasst alle Aktivitäten zur Initialisierung eines Projekts. Wesentliche Aufgaben dieser Phase sind die Zielanalyse, die Abgrenzung des zu untersuchenden Systems, die Projektplanung (z.B. bezüglich erforderlicher Ressourcen, Kosten und Ergebnisse) sowie die Prüfung rechtlicher Rahmenbedingungen. Die Beteiligungsnotwendigkeit des Betriebsrates richtet sich dabei nach den Vorschriften des Betriebsverfassungsgesetzes.

Die zweite Phase der Systemanalyse, die Istanalyse, gliedert sich in die Isterfassung, die Istdokumentation und die Potenzialanalyse. Die Isterfassung (auch Istaufnahme genannt) umfasst die quantitative und qualitative Erfassung des Istzustands eines abgegrenzten Systems unter Berücksichtigung des Untersuchungszwecks. Sie richtet sich entsprechend der Zielstellung der Systemanalyse auf die Erfassung von Zielen, Strukturen, Elementen, formalen und informalen Prozessen, Arbeitsabläufen, Tätigkeiten, Informationsbedarf, Entwicklungstendenzen und Anforderungen an das System. Dabei werden in der Praxis meist die Inventurmethode (Studium vorhandener Unterlagen), die Interviewmethode, die Fragebogenmethode oder die Berichtsmethode eingesetzt.

Die Istdokumentation folgt im Vorgehensmodell der Systemanalyse auf die Isterfassung  zur schriftlichen Fixierung und Formalisierung des erhobenen Istzustands. Im Rahmen der Istdokumentation kommen die verschiedenen, oben genannten Modellarten zum Einsatz. Diese bringen eigene Anforderungen an die zu erhebenden Daten mit. Obwohl die Isterfassung einen möglichst objektiven Blick auf das Unternehmen gewährleisten soll, wird sie dennoch von der Istdokumentation dahingehend beeinflusst, dass je nach gewähltem Untersuchungsziel verschiedene Erhebungsmethoden besser oder schlechter geeignet sind, die nötigen Informationen zu erfassen. Dennoch ist methodisch zum Zeitpunkt der Isterfassung noch nicht festgelegt, welche Fakten zur Begründung von Vorschlägen des Sollkonzepts herangezogen werden müssen. Entsprechend ist es unzweckmäßig, eine schwachstellenfixierte Istaufnahme durchzuführen, da in diesem Fall keine unvoreingenommene Systemaufnahme mehr erfolgt.

In der Potenzialanalyse, der letzten Unterphase der Istanalyse, werden im Rahmen der Zielsetzung die erhobenen Fakten kritisch analysiert, um Potenziale zu erkennen und sie zu begründen. Einfach ausgedrückt sind Potenziale Schwachstellen, die im Rahmen der Systemanalyse behoben werden können. Sie können beispielsweise in organisatorische, informationelle, technische und sonstige Potenziale kategorisiert werden.

In der nachfolgenden Phase des Sollkonzepts werden ein oder mehrere alternative Konzepte als Interventionsansätze geplant bzw. entworfen. Sie sollen den ermittelten Istzustand verbessern und die identifizierten Potenziale beseitigen. Der Schwerpunkt dieser Phase liegt auf der Konzeption bzw. der Planung von Maßnahmen, die in der Phase der Realisierung entwickelt und in der Phase der Implementierung im Unternehmen eingeführt werden. Die Maßnahmen werden in organisatorische, technische und motivatorische (bzw. Mitarbeiter-orientierte) Maßnahmen eingeteilt. Insbesondere die technischen Maßnahmen können abhängig vom Projektziel auch als ein detailliertes Pflichtenheft ausgearbeitet werden, welches dann als Grundlage für die nachfolgende Phase der Realisierung dient.

In der Phase der Realisierung ist zunächst eine Entscheidung zwischen Eigenentwicklung oder Einführung bestehender Standardsoftware zu treffen (auch vereinfachend als Make or Buy-Entscheidung bezeichnet). In der Praxis sind dabei Zwischenformen möglich, z.B. die Konfiguration und Erweiterung angeschaffter Software. Im Falle der Entscheidung zur Neuanschaffung von Software schließt sich im Rahmen der Realisierung ein Softwareauswahlprozess an. Wenn Software hingegen entwickelt werden soll, kommen an dieser Stelle dedizierte Softwareentwicklungsmethoden wie zum Beispiel  Rational Unified Process (RUP) zum Einsatz (je nach Umfang gegebenenfalls auch in einem eigenen Softwareentwicklungsprojekt).

Die Phase der Implementierung dient dazu, das in im Sollkonzept und der Realisierung Erarbeitete umzusetzen bzw. in den Betriebsalltag einzuführen. Dabei erfolgt auch die Integration in die vorhandene IT-Landschaft. Bei der als Big Bang bezeichneten Variante erfolgt eine Einführung in allen betroffenen Unternehmensbereichen gleichzeitig. Der pilotierte Roll-out setzt zunächst nur in einem Unternehmensbereich ein, um dann nach und nach die Veränderungen auf weitere Bereiche auszudehnen. Die stufenweise Einführung zielt auf ein sukzessives Umsetzen der Veränderung ab. Der Spezialfall der Einführung bzw. Umstellung von Software vollzieht sich in der Regel über die schrittweise Überführung vom Testbetrieb in den Produktivbetrieb.

Sind die Veränderungen implementiert, ist die Systemanalyse abgeschlossen. Nach Möglichkeit sollte nach einiger Zeit überprüft werden, ob die eingeführten Veränderungen auch tatsächlich in der Praxis angenommen wurden. Dabei ist auch vorteilhaft zu erheben, ob die Mitarbeiter aus der täglichen Arbeit heraus weitere Anregungen für Verbesserungen mitgeben können. Hier kann sich eine weitere kontinuierliche Verbesserung oder gegebenenfalls eine erneute Systemanalyse anschließen.


Literatur

Krallmann, Hermann ; Bobrik, Annette; Levina, Olga: Systemanalyse im Unternehmen. 6. Aufl., Oldenbourg: München, 2013.

Scheer, August-Wilhelm: Wirtschaftsinformatik – Referenzmodelle für industrielle Geschäftsprozesse. 2. Aufl., Springer Verlag: Berlin, Heidelberg, New York, 1994.

 

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